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Eine ganz normale Wiese!? Wie sich mit angepflockten Kühen, Vogelnistkästen und Insektenblühstreifen ländliche Räume neu denken lassen.

15. März 2024

„Im Mittelpunkt dieses Artikels steht eine Wiese. Diese Wiese erfüllt unterschiedliche Funktionen. Sie dient als Heulieferant für die Geflügelzucht, als Weidefläche für ange­pflockte Kühe, als Blühwiese und Insektenschutzraum, als Streuobstwiese, zur Kürbis­zucht, ebenso zur Erholung und zur Freude für Ornitholog*innen, als Lebensraum für Kraniche, Rehe und zum Auslauf von Gänsen und Enten. Sie wird gemäht, aber auch aktiv vor der Mahd geschützt. Bäume vertrocknen und werden neu gesetzt. Füchse sind auf Streifzug. Die Enten und Gänse muss daher ein Zaun schützen. Die Wiese ist ein Blickfang und lädt zu Schwärmereien über ländliche Idylle ein. Sie liegt in einem kleinen Tal umgeben von zahlreichen Seen, eingeschmiegt zwischen Wald und Wohnbebauung, in einem nur ein gutes Duzend Häuser umfassenden Ort im Süden des Landkreises Mecklenburgische Seenplatte. Anhand genau dieser Wiese skizieren wir in diesem Artikel unser Verständnis ländlicher Räume.“

(Dihlmann/Helbrecht 2023, S.1)

Mit dieser Beschreibung einer mecklenburgischen Wiese beginnt unser Artikel, in dem Ilse Helbrecht und ich, Carl-Jan Dihlmann, es uns zum Ziel gesetzt haben, ein neues Licht auf den Forschungsgegensand ländliche Räume zu werfen. Eben jene mecklenburgische Wiese spielt dabei die prominente Hauptrolle. Doch der Reihe nach:

Unsere Überlegungen starten mit der ganz grundsätzlichen Auseinandersetzung mit aktuell gängigen Definitionen des Ländlichen. In einem alltäglichen Sinne macht sich wohl beinahe jeder Mensch einen Reim auf das Begriffspaar Stadt/Land. Im Allgemeinen fällt es nicht schwer gewisse räumliche Elemente, Phänomene oder Eigenschaften entweder als städtisch oder als ländlich zuzuordnen: viele Menschen, die relativ dicht aufeinander wohnen = Stadt. Naturnähe = Land. Hektik = Stadt. Enge soziale Netzwerke, sprich: jede:r kennt jede:n = Land. Heimatverbundenheit = Land. Flüchtigkeit der sozialen Begegnungen = Stadt. Und so weiter und so fort. Auf den ersten Blick scheint es möglich, die Welt perfekt geordnet in diese zwei Kategorien einsortieren zu können. Doch wie bei eigentlich allen zweigleisigen Begriffspaaren wird es erst so richtig spannend, wenn man nicht nur das Schwarz und Weiß betrachtet, sondern die Grauschattierungen näher unter die Lupe nimmt.

Ähnlich wie bei anderen Binaritäten, wie z. B. Gut und Böse, Mann und Frau, Ost und West, ist auch dem Paar Stadt und Land eine gewisse Ungleichheit eingeschrieben (vgl. Helbrecht 2019). So existiert eine Vielzahl von Definitionen und Konzeptionen für „Stadt“ und Eigenschaften, die das „Städtische“ und „Urbane“ ausmachen. Für das „Land“ sieht es da ganz anders aus. Hier fehlt es weitestgehend an einer für sich stehenden Definition. Meist wird als ländlicher Raum schlicht derjenige Raum festgelegt, in dem nicht genügend Menschen pro Quadratkilometer wohnen, um als Stadt zu zählen. Werden dem Land dennoch beschreibende Merkmale zugeordnet und wird es somit nicht nur über Grenzwerte begriffen, orientieren sich diese Wesensmerkmale meist trotzdem am Ausgangspunkt Stadt. Land ist dabei in vielen Fällen das, was noch nicht Stadt ist. Ländlicher Raum ist dann das noch nicht Moderne, sondern Traditionelle, Heimatverbundene, Rückständige, noch nicht für den Fortschritt bereite; das noch nicht mit genügend Infrastruktur ausgestattete; das noch nicht so Vielfältige und Diverse; usw. Diese Beschreibungen sind allerdings aufgrund ihrer Pauschalität oftmals sehr unbefriedigend. In Städten fällt die Milieuforschung bspw. sehr viel nuancierter aus.[1] Gleichzeitig sind immer mehr Phänomene zu beobachten, die man als Stadt-Land-Zwitter bezeichnen könnte. Wie ordnet man z. B. Urban Gardening, also eine Landwirtschaft in der Stadt, ein? Was ist mit Menschen, die ihren Arbeitsplatz von einem innerstädtischen Bürokomplex in Berlin während der Corona-Pandemie in das Homeoffice in die brandenburgische Prignitz verlegt haben? Ist das nun städtisch oder ländlich?

Bei den für unseren Artikel durchgeführten Besuchen an der Mecklenburgischen Seenplatte fiel immer wieder auf: Als so rückständig, traditionell und unterversorgt erscheint der ländliche Raum hier gar nicht. Natürlich gibt es auch die Momente, in denen der drängende Wunsch aufkommt, wieder zurück in Berlin zu sein. So beispielsweise bei meinem ersten Besuch in Mecklenburg, als ich am Bahnhof von Neonazis bepöbelt wurde, die lauthals ein Lied grölten über ihren Stolz, ostdeutsch und national zu sein. In solchen Momenten ist es leicht, sich den Vereinfachungen hinzugeben: Im Osten auf dem Land: Alles Nazis! Aber dann wiederum gibt es am gleichen Bahnhof ein Café, das Hafermilch-Latte aus der Siebträgermaschine serviert und darauf achtet, ein möglichst breites veganes Angebot vorhalten zu können. Es sind diese Kontraste und Vielfältigkeiten, die mich immer wieder daran haben zweifeln lassen, ob Land wirklich das homogene und statisch Andere von Stadt ist.

Gerne wollten wir diesem Zweifel aus wissenschaftlicher Sicht nachgehen. Die Feststellung, dass ländliche Räume, angesichts der immer unübersichtlicher werdenden Verhältnisse zwischen Städtischem und Ländlichem, nach wie vor als die weniger komplexe Seite einer zweiseitigen Medaille gesehen werden, war für Ilse Helbrecht und mich der Ausgangspunkt für eine grundlegendere theoretische Beschäftigung mit ländlichen Räumen. Unser Ziel im Artikel „Ländliche Räume als relationale Gefüge“ ist es, eine theoretische Konzeption ländlicher Räume herzuleiten, die die vielfältigen und komplexen Lebensrealitäten in ländlichen Räumen abbilden kann. Und hier kommt nun die Wiese ins Spiel!

Inspiriert durch theoretische Überlegungen aus dem Bereich der Science and Technology Studies (STS), der Akteur-Netzwerk-Theorie (ANT) sowie den mehr-als-menschlichen Geographien haben wir versucht so gut es geht alle relevanten Aspekte, die mit dieser Wiese in einem kleinen mecklenburgischen Ort zusammenhängen, nachzuvollziehen und darüber etwas über unsere vermutete Komplexität von Ländlichkeit herauszufinden. Für uns bot es sich an, diese Komplexität und Verflechtung, wie wir es nennen, als „Gefüge“ zu beschreiben. In der Form, wie wir „Gefüge“ verwenden, haben wir uns bei Anna Tsing (2018) inspirieren lassen, die mit „Gefüge“ ein Geflecht aus Menschen und Nicht-Menschlichem beschreibt, das sich rund um das Sammeln eines speziellen Pilzes ergibt. Nur wenn je spezifischen Konstellationen zusammenkommen, die Menschen, Pflanzen, Pilze, Winde, Vergangenheiten, Praktiken, Verständnisse umfassen, ergibt sich so etwas wie Handlungsmacht („Agency“). Diese Handlungsmacht, die sich aus den Verflechtungen von Menschen und Nicht-Menschlichem ergibt, ist einer der Kernaspekte der STS und ANT sowie der mehr-als-menschlichen Geographien. Für uns heißt das, wir gehen auch bei der Wiese davon aus, dass, wenn wir nur Einzelaspekte von Konstellationen betrachten würden, dadurch nicht das Gesamtphänomen zu begreifen wäre. Oder anders: Wir gehen davon aus, dass die Untersuchung allein menschlicher Handlungen nicht ausreicht, um ländliche Räume zu verstehen. Stattdessen müssen umfangreiche Konstellationen untersucht werden, die wir in unserem Artikel „Gefüge“ nennen. Ein solches Gefüge, nämlich das, welches sich um die Wiese in Mecklenburg spannt, haben wir in unserem Artikel untersucht.

Die Wiese in den Mittelpunkt zu stellen hat sich für unseren Zweck vor allem aus zwei Gründen angeboten. Zunächst, weil sich an ihr zwei ‚klassische‘ ländliche Merkmale zeigen, nämlich Natur und Landwirtschaft. Zum anderen aber sind diese Natur und Landwirtschaft nicht einfach vorhanden, weil sie nun mal angeblich zur Ländlichkeit dazugehören, sondern sie werden dort durchaus immer wieder neu und anders hergestellt. Die Idee war es zu zeigen, dass in Natur und Landwirtschaft sehr viele, und vor allem sehr viele unterschiedliche, Praktiken drinstecken, die Natur und Landwirtschaft sehr unterschiedlich hervorbringen. Das ist auch der Grund, warum der Untertitel unseres Artikels „Argumente für eine ontologische Wende in der Ländlichkeitsforschung“ lautet. Nicht epistemologische Fragen, die auf das Verständnis eines Konzepts abzielen, standen im Zentrum unseres Interesses, sondern ontologische Aspekte, die nach dem Sein von Etwas fragen. Das heißt uns ging es nicht darum nachvollziehen zu können, was verschiedene Leute unter Natur und Landwirtschaft verstehen, sondern wie beides jeweils unterschiedlich hervorgebracht wird – durch menschliche und nicht-menschliche Aktivitäten und Praktiken. Das haben wir in Anlehnung an Annemarie Mol (2002) „enactment“ genannt. Die Wiese war dabei genau das richtige Objekt, um dieses Enactment von Natur und Landwirtschaft zeigen zu können. Ein Beispiel: Zwei Anrainer:innen der Wiese waren sich einig in der Einschätzung, dass sie die Natur und Tiere lieben und gerne Zeit draußen in der Natur und mit Tieren verbringen. Der eine Anrainer setzte dies um, indem er auf der Wiese Nutztiere hält: Früher angebundene Kühe, nachdem ihm das verboten wurde, nun nur noch Geflügel. Ihm macht die Arbeit mit den Tieren auf der Wiese großen Spaß: das Mähen, das Heu machen, das Einstreuen usw. Die andere Anrainerin wiederum mochte zwar die Gänse, fand es aber besser, wenn auch ihre Katzen und ein Fuchs auf der Wiese streunen konnten (was dem Geflügelhalter nicht sonderlich gefiel), und wenn das Gras hoch wuchs und somit Bienen und Schmetterlingen in der Wiese waren. Ihre Form der Landwirtschaft bestand also aus Blühwiesen, Insektenschutzräumen und auch aus dem Anbau alter Obstsorten und nicht aus Geflügelmast. Beide setzten ihre Liebe zu Natur und Landwirtschaft also auf eine sehr unterschiedliche Weise um.

Das war der erste Aspekt unserer Betrachtungen an der Wiese: Unterschiedliche Praktiken führten dazu, dass das Wesen der Wiese je nach Praktik ein ganz anderes war. Die verschiedenen Aktivitäten der beiden Anrainer:innen führten in der je spezifischen Konstellation mit Tieren, Pflanzen usw. zu zwei sehr verschiedenen Wiesen.

Den zweiten Aspekt, der für unsere Betrachtungen interessant war, bezeichneten wir als „Relationierung“. Damit meinen wir, dass Ländlichkeit nicht in Bezug auf fest eingegrenzte Räume oder auch Maßstabsebenen verstanden werden sollte. Wenn in Deutschland all das als ländlicher Raum verstanden wird, was eine Einwohnerdichte unter 150 Einwohner:innen/km2 aufweist, kann anhand dessen eine Deutschlandkarte gezeichnet werden, die alle Landkreise dementsprechend in orange „städtisch“ und grün „ländlich“ einfärbt (BBSR)[2]:

Mit unserer Konzeption ländlicher Räume als relationale Gefüge widersprechen wir dieser Art von Raumeinteilung. Wir gehen davon aus, dass nicht alle Aspekte eines Landkreises „ländlich“ sind, nur weil er auf der Karte „grün“ eingefärbt ist, und andersherum auch in einer Stadt durchaus Ländliches zu finden ist. Unser Vorschlag sieht nun vor, dass nicht im Vorhinein festgelegt wird, welche Elemente als städtisch und welche als ländlich zu gelten haben, sondern sich diese aus den kontextbezogenen Gefügen ergeben.

Verfolgen wir das Gefüge unserer Wiese weiter, stoßen wir auf einen weiteren Wiesenfreund, der in der gut 50 Kilometer entfernten Kreisstadt wohnt. Er ist oft auf unserer Wiese zu Gast, weil er eine Leidenschaft für Vögel hat. Er baut unheimlich gerne Vogelnistkästen und hat diese sowohl an sein kleines Reihenendhaus mitten in einer Neubausiedlung in der Kreisstadt angebracht als auch die gleichen auf unserer Wiese. Für ihn ist die Wiese eine Inspiration dafür, wie er sein Leben in der Stadt führt, das er dort aufgrund seiner Lebensumstände führen muss, obwohl er sehr gerne auch an unserer Wiese leben würde. Was wir in unserem Artikel zeigen können, ist, dass das Wiesen-Gefüge nicht etwa mit dem Zaun endet, der die Wiese umgibt, sondern sich sogar viele Kilometer weit entfernt aufspannt und Orte, Reihenendhäuser und Menschen in der Kreisstadt miteinbezieht – mit ihnen also in Relation steht. Daher sprechen wir von einem relationalen Gefüge.

Was uns wichtig ist zu betonen: Das, was wir in ausführlicherer Form im Artikel beschreiben, dieses Gefüge, das sich um die Wiese spannt, ist nur eine von vielen möglichen Konstellationen. Wie eingangs erwähnt, hatte ich bei meinen Untersuchungen auch unerfreuliche Begegnungen mit Neonazis. Ich habe riesige Putenmastanlagen gesehen und in anthroposophischen Hofläden eingekauft. Auch diese Elemente bilden ein oder mehrere Gefüge. Insofern ist der ländliche Raum in Deutschland tatsächlich besser zu verstehen als ländliche Räume im Plural, aber eben anhand je spezifischer relationaler Gefüge. Die Konsequenz, die sich daraus für uns ergibt, ist folgende: Ländliche Räume sind durchaus komplex und vielfältig verflochten. Es braucht keine Abgrenzung über vermeintliche Wesensmerkmale wie Landwirtschaft oder Natur. Es braucht auch keine Schwellenwerte, um Ländlichkeit zu konzipieren. Ländlichkeit ist nicht das vormodern Andere des Städtischen. Ländliche Räume ergeben sich aus kontextbezogenen, je spezifischen Konstellationen!

Diese Einsicht kann durchaus hilfreich sein, wenn es darum geht planerische, politische oder soziale Probleme zu lösen. Natürlich braucht es in gewissen Situationen Vereinfachungen – strategische Essentialisierungen. Manche Probleme lassen sich aber eventuell besser lösen, wenn man sie nicht über an Dichtewerten orientierte Landkreiseinteilungen angeht, sondern sich an problemzentrierten Gefügen orientiert.

Und: Wer noch genaueres über das Anpflocken von Kühen, Eulennistkästen im Schlafzimmer und nächtliche Insektenzähl-Partys wissen möchte, kann das nachlesen unter Dihlmann/Helbrecht (2023; https://doi.org/10.25162/gz-2024-0002). Natürlich geht es dort, neben vielem anderen, auch genauer um die Herleitung des Gefüge-Begriffs, theoretische Grundlagen des Enactments und den aktuellen Forschungsstand zu ländlichen Räumen. Aber eben auch sehr konkret um all das, was sich rund um eine Wiese in einem kleinen mecklenburgischen Dorf abspielt.

Verweise

BBSR – Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung (2023): Städtischer und Ländlicher Raum. Online verfügbar unter:  https://www.bbsr.bund.de/BBSR/DE/forschung/raumbeobachtung/Raumabgrenzungen/deutschland/kreise/staedtischer-laendlicher-raum/kreistypen.html (abgerufen und zuletzt geprüft am 09.01.2024).

Dihlmann, Carl-Jan; Helbrecht, Ilse (2023): Ländliche Räume als relationale Gefüge. In: Geographische Zeitschrift, online first. https://doi.org/10.25162/gz-2024-0002.

Helbrecht, Ilse (2019): Urbanität – Ruralität. Der Versuch einer prinzipiellen Klärung und Erläuterung der Begriffe. In: dérive – Zeitschrift für Stadtforschung 76, 6–13.

Mol, Annemarie (2002): The body multiple. Ontology in medical practice. Durham, London: Duke University Press.

Tsing, Anna Lowenhaupt (2018): Der Pilz am Ende der Welt. Über das Leben in den Ruinen des Kapitalismus. Berlin: Matthes & Seitz.


[1] Wenngleich in der humangeographischen Forschung inzwischen Konsens herrscht, dass es den ländlichen Raum nicht gibt. Zur Anerkennung der vorherrschenden Heterogenitäten wird daher nunmehr von ländlichen Räumen im Plural gesprochen. Die definitorische Orientierung verbleibt aber in der Regel am Noch-Nicht-Städtischen, trotz dieser semantischen Anpassung.

[2] Das BBSR, das für die Raumordnung zuständige Institut in Deutschland, legt als feste Definition des Ländlichen Raums fest: „Alle kreisfreien Großstädte sowie die städtischen Kreise bilden den Städtischen Raum, alle ländlichen Kreise bilden den Ländlichen Raum“ (BBSR 2023). Vereinfacht entspricht das allen Kreisen, die höchstens einen Einwohner:innendichtwert von 150 pro Quadratkilometer aufweisen.