Forschungsprogramm
Im Sonderforschungsbereich 1265 erforschen rund sechzig Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus den Disziplinen Soziologie, Architektur und Städteplanung, Geographie, Stadtanthropologie, Kunst sowie Medien- und Kommunikationswissenschaft die Veränderungen der sozialräumlichen Ordnungen, die seit den späten 1960er Jahren zu beobachten sind. Wir gehen davon aus, dass sich insbesondere mit der Intensivierung transnationaler Formen des Wirtschaftens, mit Umbrüchen in der globalen politischen Geographie und mit der Entwicklung und Verbreitung digitaler Kommunikationstechnologien die Welt auf eine Weise gewandelt hat, die nicht einfach als Globalisierung zu verstehen ist. Vielmehr zeigen sich konfliktreiche Wandlungsprozesse, die – so die zentrale Annahme – besonders deutlich zu erkennen sind, wenn man sie als Refiguration von Räumen erfasst.
Die erste Förderphase des SFB 1265
In der ersten Phase stand die Entwicklung des Konzepts der Refiguration von Räumen im Vordergrund der gemeinsamen Arbeit. Die Forschung im SFB konzentrierte sich daher auf die Ausarbeitung sozialtheoretischer Grundbegriffe der Räumlichkeit von Gesellschaft sowie die empirische Bestimmung qualitativer Merkmale der Refiguration. Es wurden vier idealtypische Raumfiguren identifiziert: Territorialraum, Netzwerkraum, Bahnenraum und Ort, deren unterschiedliche Logiken Spannungen und Konflikte erzeugen können. Anders als im Fall des abstrakten und am Container-Modell orientierten Raums der Moderne zeigte der SFB zudem, dass Raumkonstitution heute zunehmend polykontextural erfolgt, dass also im Handeln immer häufiger und immer mehr Raumbezüge zugleich wirksam werden. Diese Polykontexturalisierung ist eng an die zunehmende, immer auch räumliche Mediatisierung kommunikativen Handelns durch digitale Kommunikationstechnologien geknüpft, die dazu führen, dass Menschen gleichzeitig in verschiedenen Maßstabsebenen agieren. Vermittelt durch die Mediatisierung des Handelns und die Zirkulation von Menschen, Dingen und Technologien kommt es letztlich auch zu einer Translokalisierung, also einer Koppelung verschiedener Orte. Der SFB hat mit dieser Arbeit einen wesentlichen Schritt hin zu einer empirisch begründeten Theorie des gegenwärtigen sozialen Wandels als prozesshafte, räumlich-kommunikative Refiguration getan.
Die zweite Förderphase des SFB 1265
In der zweiten Phase des SFB rücken (1.) die gesellschaftlichen Konflikte in und zwischen Raumfiguren in das Zentrum der Forschung. Diese konflikttheoretische Fokussierung ist verbunden mit der (2.) vertiefenden Klärung der Polykontexturalisierung und ihrer subjektiven Bewältigung. Letztere empirische Aufgabe schließt auch mit ein, dass neue Raumanordnungen bestimmt und differenziert werden. Um die Ähnlichkeiten und Unterschiede, aber auch die vielfachen Verflechtungen der weltweit in sehr verschiedenen, vielfältigen Kulturen und Gesellschaften empirisch untersuchten Räume in den Blick zu bekommen, wenden wir schließlich (3.) die vergleichende Perspektive der multiplen Räumlichkeiten/multiple spatialities an. Mit diesem Begriff tragen wir der durchaus auch konflikthaften Vielfalt des räumlichen Wissens, des räumlichen Handelns und räumlicher Regimes Rechnung. Neben den qualitativen Methoden, die zur Beschreibung der Refiguration angewandt werden, nimmt der SFB in der zweiten Phase eine Erweiterung in Richtung quantitative Daten und Mixed-Methods vor.
Ausweitung der Untersuchungsorte und Perspektiven
Um die für die Ausrichtung auf multiple spatialities erforderliche Dezentrierung und Dekolonialisierung der Forschungsperspektive zu erreichen, wollen wir die Diversität unserer Beobachtungsstandpunkte weiter ausbauen und Ko-Interpretationen intensivieren. Hierzu laden wir Kolleg*innen aus dem Globalen Süden verstärkt zur Partizipation ein und weiten die empirische Forschung dadurch aus, dass die Teilprojekte enge Partnerschaften mit Kolleg*innen eingehen, deren räumliche Positionalität die Perspektiven des SFB weiter ausdifferenzieren.
Projektbereiche und Formate der Kooperation:
Um die Merkmale der Refiguration in den empirischen Untersuchungen analytisch präzise zu bestimmen, untersuchen wir sowohl die Ebene des subjektiven Raumerlebens und Raumwissens als auch die Ebene des räumlichen Zusammenhangs von Zirkulation und Ordnung und schließlich – als Vermittlungselement – die Ebene der kommunikativen Handlungen, Interaktionen und Praktiken. Entsprechend werden die empirischen Untersuchungen der 15 Teilprojekte in drei thematische Schwerpunktbereiche – „Raumwissen“, „Räume digitaler Mediatisierung“ sowie „Zirkulation und Ordnung“ –untergliedert und interdisziplinär von Wissenschaftler*innen aus sechs ingenieurs- und sozialwissenschaftlichen Disziplinen durchgeführt. Diese interdisziplinäre Kooperation erfordert eine innovative Verknüpfung der verschiedenen methodischen Ansätze, Datensorten und Darstellungsformen der beteiligten Disziplinen, die unter anderem durch das von der Wissenschaftsethnographin Dr. Séverine Marguin geleitete Methoden-Lab erreicht werden soll. Ein eigenständiges Infrastrukturprojekt widmet sich zudem dem Umgang mit den umfänglichen Datenkorpora, dem Datenmanagement und der Forschungsdatenpolicy des SFB. Die Theoriebildung wird in Theorie-Tandems sowie in den Projektbereichen, Querschnittsgruppen, Workshops und im Plenum zusammengeführt. Die Wissenschaftskommunikation in gesellschaftliche Bereiche außerhalb der universitären Grundlagenforschung erfolgt unter anderem über ein Projekt der Öffentlichkeitsarbeit.
Zentrale Forschungsfragen:
- Was sind die konstituierenden Merkmale der Refiguration von Räumen?
- Welche neuen relationalen Anordnungen zu Räumen lassen sich in Handlungsvollzügen beobachten?
- Welche Rolle spielen subjektive Erfahrungen, Emotionen und Wissen, welche Rolle spielen kollektive Akteure wie politische Netzwerke oder Migrations-Communities in diesen Prozessen?
- Wie steht die Veränderung des subjektiven Raumwissens im Zusammenhang mit den institutionellen Veränderungen von Räumen?