Das Haus verlassen, um privat zu sprechen. Wie die Corona-Maßnahmen das Wie und Wo sozialer Unterstützung beeinflusst haben
Hinweis: Übersetzt aus dem Englischen
Einleitung
Während sich das Coronavirus nach einer Verschnaufpause im Sommer wieder verstärkt ausbreitet, sehen sich Regierungen erneut nach Möglichkeiten um, urbane Begegnungsorte zu entleeren und Kontaktbeschränkungen zu verhängen. Zum Zeitpunkt des Verfassens dieses Artikels gelten in Berlin strenge Maßnahmen zur Kontaktbeschränkung im öffentlichen und privaten Raum: „Der Aufenthalt […] im öffentlichen Raum ist nur allein, mit Angehörigen des eigenen Haushalts und Angehörigen von maximal einem weiteren Haushalt gestattet. Zudem gilt eine Personenobergrenze von fünf zeitgleich Anwesenden.” [1]
Es sollen so wenig Menschen wie möglich getroffen werden und wir sollen wann immer möglich zu Hause bleiben. In der Hoffnung, die Infektionszahlen unter Kontrolle zu bringen, werden derzeit noch strengere Maßnahmen diskutiert. Die Ausgangslage aus dem Frühjahr ist damit im Grunde wiederhergestellt.
Früh wurden vor allem die Vorteile des Home-Office und der Nutzung digitaler Medien besprochen, mit denen wir „in Kontakt bleiben“ und „wie gewohnt“ weitermachen könnten – arbeiten, lernen, unterrichten, heiraten, Opern singen oder demonstrieren via Videochat. Diese Feststellungen waren fast überschwänglich, als seien wir endlich in einer Gesellschaft ohne Orte („placeless society“) angekommen (Knoke 1996), die das Versprechen einlöst, den Beschränkungen und Grenzen des Körpers zu entkommen (siehe Bell 2020: 21). Diejenigen, die weniger optimistisch auf den Wert ihres virtuellen Daseins blicken, mögen in den ersten Wochen des Lockdowns davon ausgegangen sein, es wäre kein Problem, für ein paar Wochen niemanden zu treffen. Jetzt, wo dieser Zustand anhält und wir mit der Aussicht konfrontiert sind, dass sich bis zum Ende dieses langen Winters daran nichts ändern wird, drängt sich erneut eine Frage auf, mit der wir uns bereits in der Vergangenheit befasst haben (Blokland et al. 2020): Wie gehen Menschen mit ihren alltäglichen Herausforderungen um?
Die Lösung von Problemen und aller möglichen Alltagsfragen kann häufig nicht länger aufgeschoben werden als die Länge eines Sommerurlaubs. Wie wir unsere Zeit verbringen, können wir hingegen kreativ anpassen (Joggen im Park statt im Fitnessstudio auf dem Laufband), oder wir machen etwas halbgar weiterhin dasselbe (einen Kuchen backen und ihn allein essen, statt ihn auf eine Party mitzubringen). Wir können aber nicht damit aufhören, uns Sorgen zu machen, noch unsere Sorgen selbst anpassen – Sorgen kommen ohne Vorwarnung und können sich sogar mehren. Unser Bedürfnis nach Unterstützung bleibt dabei unverändert.
Wie haben die Menschen sich also in der Art und Weise angepasst, wie und wo sie ihre Unterstützung unter geltenden Coronabeschränkungen organisieren? Haben sie sich Hilfe face-to-face oder digital gesucht? Sind sie zu Hause geblieben oder in der unmittelbaren Umgebung, sodass Nachbarschaften als Orte menschlichen Austauschs wichtiger wurden? Hat der digitale Austausch nicht nur für Arbeit und Bildung an Bedeutung gewonnen, sondern auch für das persönliche Gespräch über die dringlichsten Herausforderungen?
Dank der Infrastruktur des öffentlichen Nahverkehrs verfügt Berlin über gute Anbindungsmöglichkeiten (Blokland & Vief 2021). Laut einer Umfrage, die wir 2019 durchgeführt haben, zeigten die Bewohner*innen von vier unterschiedlichen Nachbarschaften daher unterschiedliche Häufigkeitsraten, das Haus zu verlassen, um mit anderen zu sprechen. Dennoch gingen sie häufig vor die Tür und trafen sich an den unterschiedlichsten Orten in der Stadt. Die Interviewten sollten über ihre größten Herausforderungen der vergangenen sechs Monate nachdenken. Dabei wurde dokumentiert, wo, wie und über welche Form der Herausforderung gesprochen wurde. Vor Ausbruch der Coronapandemie fanden die meisten dieser Unterhaltungen außerhalb der eigenen Bleibe und face-to-face statt. Nur wenige Berliner*innen fanden ihre wichtigste Unterstützung im eigenen Haushalt. Im Frühjahr 2020 nahmen wir deshalb an, dass „digitale Kommunikation unsere Zusammentreffen in persona nicht ersetzen kann und […] die Gewöhnung daran ungleiche Auswirkungen auf die Art und Weise haben kann, wie wir in Zukunft Unterstützung finden” (Blokland et al. 2020). Daraufhin wurde die Umfrage neu aufgelegt. Jetzt können wir sehen, was passiert ist, als Menschen neue Möglichkeiten finden mussten, ihre soziale Unterstützung während des ersten Lockdowns zu finden.[2] Die Daten haben wir in denselben Nachbarschaften wie 2019 und zusätzlich (repräsentativ) in einer weiteren Nachbarschaft erhoben – mithilfe eines etwas angepassten Umfragedesigns erreichten wir zudem online weitere Menschen.[3] Für den vorliegenden Teil unseres Forschungsprojektes können wir deshalb präzise die Daten aus dem Jahr 2019 mit denen aus 2020 vergleichen, wie sich Menschen ‚vor’ und ‚nach’ den Restriktionen unserer Lebensführung verhalten haben.
Wie: Weniger Leute zum Reden
Unsere Umfrage bestätigt unsere Befürchtung: Während der Coronarestriktionen sprechen Menschen weniger mit anderen über ihr größten Herausforderungen. 2019 hatten 7% Herausforderungen, aber niemanden, um darüber zu sprechen (n=571). Nach dem Erlass der Kontaktbeschränkungen stieg diese Zahl auf 16% (n=735). Während die Berliner*innen ursprünglich im Durchschnitt 2,48 Personen hatten, mit denen sie ihre Sorgen teilen konnten, waren es 2020 nur noch 2,29 Personen.
Mit niemandem zu sprechen bedeutet nicht, dass es dafür niemanden gegeben hätte: Small (2017) hat gezeigt, dass Scham- und Schuldgefühle dazu führen können, dass wir den Austausch mit unserem engeren Umfeld vermeiden, damit es sich keine Sorgen macht. Small zeigte, dass wir stattdessen mit weniger engen Kontakten (weak ties) sprechen, da wir ihnen weniger schuldig sind oder keine sozialen Sanktionen fürchten müssen. Auch wenn wir im eigenen zu Hause nicht ins Gespräch kommen, mag das an einer gemeinsamen Vergangenheit genderbasierter Vorstellungen liegen, was mit dem oder der Partner*in geteilt werden kann – und was nicht. Wenn Wissenschaftler*innen darüber hinaus danach fragen, mit wem Menschen tatsächlich über spezifische Herausforderungen sprechen – anstatt die fiktive Frage zu stellen, mit wem sie sprechen würden, wenn sie eines Tages ein Problem hätten – stellen sie fest, dass solche Ereignisse eher ungeplant und unbeabsichtigt entstehen. Beispielsweise könntest du dein Kind vom Kindergarten abholen und – während du darauf wartest, dass es endlich seine Schuhe angezogen hat – beiläufig eine Plauderei mit einem anderen Elternteil beginnen. Am Ende bist du im Gespräch versunken und hast der Person deinen Scheidungsstress anvertraut, bis dein Kind sagt: „Du wolltest doch gehen!“ Die steigende Zahl von Leuten, die niemanden haben, um über ihre Probleme zu sprechen, mag teilweise durch das Ausbleiben solcher Gelegenheiten erklärt werden.
Wie: Nur ein Bisschen mehr zu Hause
Berliner*innen, die persönlich mit jemandem sprechen konnten, sind etwas mehr zu Hause geblieben. 2019 fanden 49% aller persönlichen Kontakte, bei denen Studienteilnehmer*innen Unterstützung ausgetauscht haben im eigenen zu Hause, 51% außerhalb dessen statt. Dies änderte sich während des Lockdowns: 54% aller Unterstützung fand zu Hause statt, ungefähr 46% hingegen nicht. Generell wurde also weniger Unterstützung außerhalb der eigenen vier Wände erfahren, nicht anders als es durch die Aufforderung, zu Hause zu bleiben, zu erwarten gewesen wäre. Wir sehen hier allerdings keine radikale Verschiebung hin zum zu-Hause-Bleiben: fast die Hälfte aller face-to-face Kommunikation wurde weiterhin anderswo geführt! Wo sind die Leute also hingegangen, wenn Restaurants, Bars, Cafés und viele Büros geschlossen waren?
In unserer Umfrage unterscheiden wir ‚außerhalb des eigenen zu Hauses’ hinsichtlich dreier Kategorien: ‚in der Nachbarschaft’, ‚außerhalb der Nachbarschaft, aber in Berlin’ und ‚außerhalb von Berlin’. Dabei nahm die Bedeutung der Nachbarschaft um einiges zu (2019: 27%, 2020: 32% im Vergleich zu den anderen Kategorien, die außerhalb von zu Hause liegen); andernorts, aber innerhalb der Stadt sank um 1% (von 59% auf 58%) und nur 10% aller Teilnehmer*innen trafen andere Leute außerhalb von Berlin (2019: 14%). Folglich wurde die Nachbarschaft als Begegnungsraum, um persönlich mit anderen zu sprechen, etwas wichtiger, während die Bedeutung von Begegnungen außerhalb Berlins abnahm.
An dieser Stelle muss zur Kenntnis genommen werden, dass wir den Interviewten ihre Nachbarschaft nicht vorgegeben, und diese auch nicht objektivierend gemessen haben. Im Gegensatz zur Stadtgrenze sind solche Abgrenzungen nicht klar und eindeutig. Mit diesem Vorgehen entsprechen die Antworten zur räumlichen Verortung des Austauschs der jeweiligen Wahrnehmung der Teilnehmer*innen, ob ein Kontakt in der Nachbarschaft stattfand oder nicht. Vor dem Hintergrund der Dichte Berlins, der Wahrnehmung der Nachbarschaft als ein kleines, oft besonders abgegrenztes und jeweils unterschiedlich imaginiertes Gebiet und des öffentlichen Nahverkehrs, der von den Restriktionen unberührt blieb, bestätigen die Daten also die Stadt, und nicht die Nachbarschaft, für 60% der face-to-face Kontakte als wichtigste räumliche Ebene für den Austausch von Unterstützung.[4] Wenn du und ich von meinem Wohnort aus einen Spaziergang machen, ist es wahrscheinlich, dass wir ‚meine Nachbarschaft’ verlassen haben werden, bevor du mir von deinen Sorgen erzählt haben wirst.
Während die meisten Einrichtungen geschlossen waren, mussten diese Treffen im öffentlichen Raum stattgefunden haben, wo Menschen ihre Routinen anpassten. Im qualitativen Teil unserer Studie trafen wir zum Beispiel zwei Theaterschauspieler, die auf einem innerstädtischen Platz mit Bier in der Hand im Kreis gelaufen sind. Sie erklärten, sie würden sich normalerweise einmal im Monat in einer Bar auf ein Bier treffen. Sie würden nicht weit voneinander entfernt wohnen und auch ihre Familien, inklusive der kleinen Kinder, seien befreundet. Sie sind schon lange befreundet und wohnen mittlerweile in der gleichen Straße. Durch die Nähe ihrer Wohnorte, würden sie sich sehr häufig mit den Kindern und ihren Partner*innen treffen, die sich ebenso gut miteinander verstehen, und gemeinsame Ausflüge unternehmen. Trotzdem treffen sie sich einmal im Monat zu zweit, um sich in einer Bar in Ruhe unterhalten zu können. Nach Inkrafttreten der Kontaktbeschränkungen wurden die Hausbesuche durch Familienausflüge zum Spielplatz ersetzt und anstelle der Kneipenabende in geschlossenen Räumen wurde das im-Kreis-Laufen auf dem öffentlichen Platz ihr neues Ritual.
Wie: Der Umstieg auf digitale Medien
Eine stärkere Veränderung der Alltagsroutinen war die Hinwendung zur digitalen Kommunikation von circa 20% hin zu 48% aller Interaktionen derer, die weiterhin miteinander kommunizierten. Wenn Kommunikationsgeräte benutzt wurden, wurde weniger oft über das Telefon gesprochen als in 2019; Videotelefonie hingegen boomte und auch die Nutzung von Messengerdiensten nahm zu (Tabelle 1).
Anteil an Interaktionen (%) via… | 2019 | 2020 |
Persönlich (Face-to-Face) | 79.47 | 51.64 |
Digitale Medien, davon: | 20.53 | 48.36 |
Telefon | 81.59 | 61.59 |
Videotelefonie | 2.37 | 16.78 |
Messenger / E-Mail | 16.04 | 21.63 |
Haben die Berliner*innen deshalb damit angefangen, ihre privaten Räume in ein ‚Smart Home’ zu verwandeln, von wo aus sie – drinnen sitzend – mit Freund*innen und Familie außerhalb in Kontakt treten konnten? Nein: Studienteilnehmer*innen schrieben eher Textnachrichten oder telefonierten mit ihren Ansprechpartner*innen, um Unterstützung zu erhalten, während sie selbst nicht zu Hause waren – und das ist neu. 2019 schrieben 76% Textnachrichten oder telefonierten mit ihren Ansprechpartner*innen, während sie auf dem Sofa saßen oder in ihrem Wohnzimmer auf und ab gingen, sich selbst aber innerhalb der eigenen vier Wände aufhielten. 2020 blieben nunmehr 47% zu Hause. Und an dieser Stelle wurde die Nachbarschaft wichtiger. 2019 waren nur 17% der Interviewten, die für das Schreiben von Textnachrichten oder zum Telefonieren das Haus verließen dabei innerhalb der eigenen Nachbarschaft. 2020 sprachen nicht nur mehr Menschen per (Video-)Telefonie außerhalb der eigenen Bleibe miteinander, 66% waren dabei gleichzeitig innerhalb der eigenen Nachbarschaft, um Hilfestellungen zu erhalten. 2019 waren es weniger, die sich dabei außerhalb der Nachbarschaft, aber in der Stadt oder außerhalb der Stadt aufhielten (Tabelle 2).
Anteil an Interaktionen (%) über digitale Medien: Mit der Interviewpartner*in… | 2019 | 2020 |
Zu Hause | 75.67 | 46.88 |
Nicht zu Hause, davon: | 24.33 | 53.12 |
Innerhalb der Nachbarschaft | 17.05 | 66.03 |
Außerhalb der Nachbarschaft, aber in Berlin | 53.41 | 21.19 |
Außerhalb von Berlin | 29.55 | 12.78 |
Warum: Die neue Privatheit in der Öffentlichkeit
Warum also wurden Nachbarschaften so relevant für digitale Unterstützung?
Zum Teil sehen wir eine Verlagerung des Digitalen von außerhalb der Nachbarschaft zu lokaler, digitaler Kommunikation. Wir können davon ausgehen, dass viele Menschen aufgehört haben, zur Arbeit oder Universität zu fahren, und dass es weniger Fahrten zu Therapeut*innen, Sportvereinen und allem Anderem gab, was sie dazu gebracht hat, durch die Stadt zu fahren. Außerdem nehmen wir an, dass viele Berliner*innen, die den öffentlichen Nahverkehr benutzen, das tun, um irgendwohin außerhalb der eigenen Nachbarschaft zu gelangen und, zuletzt, dass die Zeit im öffentlichen Nahverkehr die Zeit ist, um Nachrichten, E-Mails, etc. zu lesen und zu beantworten. Das Verschwinden der ‚Zwischenzeit’, die wie die Transport- bzw. Pendelzeiten außerhalb der alltäglichen Routinen stattfindet, reduziert die Möglichkeiten, solche ‚leeren’ Zeiten zu nutzen, um sich bei Freund*innen und Bekannten zu melden. Für diejenigen, für die COVID-19 viel Zeit zu Hause bedeutet, mag das sowohl erklären, warum sie weniger kommunizieren – Zeit zu füllen ist etwas anderes, als sich Zeit zu nehmen – als auch, dass sie digital von zu Hause aus mit der Welt kommunizieren.
Doch das erklärt nicht, warum Leute – wenn sie ohnehin digital miteinander kommunizieren – das nicht einfach vom Sofa aus tun, sondern dafür erstaunlich oft vor die Tür gehen. Natürlich könnten sie beim Frische-Luft-Schnappen schlicht aus Langeweile Freund*innen anrufen, um schließlich doch über ihre Probleme zu sprechen. Sie könnten sich außerdem eine neue Form von ‚Füllzeit’ geschaffen haben: private Unterhaltungen beim Spazierengehen in der Öffentlichkeit zu führen, da andere Formen der Bewegung schwierig geworden sind.
Wir haben eine weitere Hypothese, die bereits Gegenstand weiterer Forschung ist, nämlich, dass die ‚Öffentlichkeit’ (verstanden als Raum außerhalb der eigenen Wohnungstür, der allen zugänglich ist) Gelegenheiten der Anonymität geben können, die zu Hause nicht gegeben sind. Dadurch kann die verlorene Anonymität der ‚Zwischenzeit’ ersetzt und gleichzeitig die Anonymität privater Gespräche hergestellt werden: letzten Endes ist es – abgesehen von Alleinlebenden – weniger wahrscheinlich, alleine zu Hause zu sein, wenn sich alle mehr zu Hause aufhalten. Auch wenn wir uns das zu Hause gerne als Ort der Wärme und Sicherheit vorstellen, ist es das häufig nicht. Und selbst wenn es das ist, kann der private Charakter vieler Wohnungen und Häuser, z.B. der Raum hinter der Wohnungs-, Haus- und Zimmertür, den Kontakt zu anderen erschweren. Mit niemandem zu sprechen, kann tatsächlich eine Folge davon sein, aus Scham- und Schuldgefühlen unser näheres Umfeld zu vermeiden – damit es sich keine Sorgen macht.
Als Nebenbemerkung: Eine detailliertere Analyse, mit welchen Beziehungstypen dabei kommuniziert wurde, zeigt, dass Arbeitskolleg*innen, gute Freund*innen und Bekannte etwas öfter außerhalb der eigenen Bleibe kontaktiert wurden, während digitale Unterstützung von Seiten der Familie etwas häufiger zu Hause erfahren wurde. Das leuchtet ein, da es schwierig sein könnte, innerhalb der Familie zu sprechen, ohne dass das Problem zu Hause gehört wird und wandert. Familien sind per Definition engere Netzwerke als Freundes- oder Arbeitskollegenkreise.
Leute vor Sorgen zu bewahren kann genauso der Ausdruck von Verbundenheit sein, wie Sorgen mit ihnen zu teilen. Durch eine frühere Studie mit jungen Männern, die viel Zeit mit ihren Freund*innen auf den Straßen von Berlin-Kreuzberg verbrachten (Blokland & Šerbedžija 2018), konnten wir verstehen, wie die vielen Probleme, die ihre Eltern hatten, dazu führten, dass sie sowohl weniger zu Hause waren, als auch ihre Eltern weniger mit ihren eigenen Sorgen belasten wollten.
Anonymität meint die Qualität des Zustandes, unbekannt oder unerkannt zu sein. Es bedeutet nicht Einsamkeit oder eine Mangelerscheinung der sozialen Existenz. Es bedeutet schlicht als Person nicht bekannt zu sein (Blokland 2018: 94). Privatheit, wie sie von Bulmer definiert wird (1987: 92 zitiert nach Blokland 2018: 96), ist die Kontrolle, die wir über Informationen über uns selbst haben. Im Kern ist Privatheit eine Frage der Selbstbestimmung hinsichtlich wann, wie und in welchem Umfang wir Informationen über unsere persönlichen Erfahrungen mit anderen Menschen teilen, deren Bild von uns wichtig ist – es gibt auch Privatheit im Sinne eines ‚Big Brothers’, der uns beobachtet, aber das führt das Konzept der Privatheit jenseits der zwischenmenschlichen Interaktion, die uns hier interessiert. Zu Hause ist diese Kontrolle am kleinsten, wenn jede*r der dort lebt auch zu Hause bleibt. Wir gehen davon aus, dass Leute, die ihre Bleibe zur Kommunikation verlassen haben, die Öffentlichkeit als neue Privatheit begriffen haben: Eine Umgebung, in der sie etwa beim Überqueren der Straße ihre Sorgen teilen können, ohne dass alle im Haus, alle zu Hause, zuhören. Was gibt es unter diesen Bedingungen für eine bessere Möglichkeit, mit anderen zu sprechen, als einfach dein Handy zu nehmen und draußen einen Spaziergang zu machen?
References
Bell, Julia (2020) Radical Attention. London: Peninsula Press.
Blokland, Talja (2018) Community as Urban Practice. Cambridge: Polity.
Blokland, Talja; Krüger, Daniela; Vief, Robert (2020) Just Because We Have to Do It, It Doesn’t Mean It Is Right. Why #Stayathome Should Not Become a Moral Imperative and Social Isolation not a Habituation. https://sfb1265.de/en/blog/just-because-we-have-to-do-it-it-doesnt-mean-it-is-right/. Last access: December 16th, 2020.
Blokland, Talja; Šerbedžija, Vojin (2018) Gewohnt ist nicht normal. Jugendalltag in zwei Kreuzberger Kiezen. Berlin: Logos.
Blokland, Talja; Vief, Robert (2021, forthcoming): Making sense of segregation in a well-connected city: the case of Berlin. In Maarten van Ham, Tiit Tammaru, Ruta Ubareviciene, Heleen Janssen (Eds.): Urban Socio-Economic Segregation and Income Inequality: Springer (The Urban Book Series).
Knoke, William (1996) Bold New World: The Essential Road Map to the Twenty-First Century. New York: Kodansha International.
Small, Mario (2017) Someone to Talk To. Oxford: Oxford University Press.
[1] https://www.berlin.de/corona/massnahmen/abstands-und-hygieneregeln/ letzter Zugriff: 11. Dezember 2020
[2] Die Umfrage wurde zwischen Juli und Oktober 2020 – mit Fokus auf den Lockdown im Frühling – durchgeführt
[3] Außerdem wurden Daten für ein größeres, nicht-repräsentatives, berlinweites Sample gesammelt, die über Fernsehen, Radio, Soziale Medien und Zeitungen beworben wurden, hier aber nicht abgebildet werden.
[4] Die lokale Nachbarschaft als Kulisse für Begegnungen mit Anderen meint nicht zwangsläufig ‚neue’ Andere oder Menschen, die man sonst nicht getroffen hätte.
Autor*innen: Talja Blokland, Robert Vief und Daniela Krüger (Stadt- und Regionalsoziologie, Institut für Sozialwissenschaften, Humboldt-Universität zu Berlin und Sonderforschungsbereich 1265 “Re-Figuration von Räumen”, Projekt C04)
Tags: Digitale Kommunikation, Soziale Unterstützung, COVID19-Lockdown, Private Räume, Öffentlichkeit, Zuhause, Nachbarschaft, Netzwerke
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