Sozialer Aufstieg aus einem „Problemviertel“: die komplexen Erfahrungen von ehemaligen Bewohner*innen stigmatisierter Nachbarschaften
Problemviertel, soziale Brennpunkte, No-Go-Areas, Gettos oder einfach nur die „Bronx“ – in öffentlichen und politischen Diskursen hat sich ein umfassendes Vokabular zur symbolischen Abwertung von Nachbarschaften am unteren Ende der Sozialstruktur etabliert. Auch in Deutschland sind territoriale Stigmatisierungsprozesse unlängst ein weit verbreitetes Phänomen. Während DER SPIEGEL bereits im Jahr 1973 mit „Gettos in Deutschland: Eine Millionen Türken“ auf seinem Cover titelte, ist inzwischen (um es mit einem Begriff der Stigma-Forscherin Imogen Tyler auszudrücken) eine ganze „Maschinerie“ räumlicher Abwertungsdynamiken zu beobachten [1]: Privatsender berichten in täglichen „realistischen“ Formaten aus den hiesigen „Brennpunkten“, Youtuber und BILD-Reporter wagen sich in die gefährlichsten „Hoods“ Deutschlands – und Buchtitel wie „Neukölln ist überall“ oder „Brennpunkt Deutschland: Neukölln ist erst der Anfang“ schmücken die Schaufenster großer Buchhändler. [2]
Für Bewohner*innen verunglimpfter Nachbarschaften können die reißerischen und oftmals überaus realitätsfernen Repräsentationen ihres Zuhauses mit verheerenden Folgen verbunden sein. So gehen territoriale Stigmatisierungsprozesse etwa mit Gefühlen der Schuld und Scham, ontologischer Unsicherheit, der Vermeidung sozialer Kontakte, gegenseitiger Distanzierung (etwa in Form horizontaler Abwertungen unter Nachbar*innen) und der Diskriminierung auf dem Arbeitsmarkt einher. Der bekannte Stadtsoziologe Loïc Wacquant bezeichnet territoriale Stigmatisierung daher gar als das „auffallendste Merkmal in der erlebten Erfahrung“ urbaner Marginalität. [3]
Doch trifft die symbolische Abwertung von Nachbarschaften nicht alle Bewohner*innen gleichermaßen. Stattdessen steht die gelebte Erfahrung territorialer Stigmatisierungsprozesse im engen Wechselspiel mit anderen Dimensionen sozialer Ungleichheit und historischen Machtstrukturen: Räumliches Stigma „klebt“ an manchen Bewohner*innen gebrandmarkter Wohnviertel mehr als an anderen. Bei der Analyse, ob und wie die symbolische Gewalt räumlicher Devalorisierung erfahren wird – und welche Bewältigungsstrategien Bewohner*innen anwenden – ist es daher hilfreich, wenn nicht sogar unabdingbar, intersektional zu „denken“.
Das Ziel dieses kurzen Blogbeitrages ist es, diese Ungleichheit der Erfahrung territorialen Stigmas anhand einer kleinen Auswahl von mir geführter Interviews zu verdeutlichen. Das Datenmaterial, auf das ich mich dabei beziehe, ist insofern besonders, als es sich nicht um Gespräche mit derzeitigen Einwohner*innen stigmatisierter Nachbarschaften handelt – sondern um biographische Interviews mit ehemaligen Bewohner*innen, die soziale und räumliche Mobilität erfahren haben. Diese über 40 Interviewpartner*innen wurden durch soziale Einrichtungen in zwei ausgewählten Wohnvierteln Nordrhein-Westfalens (Duisburg-Marxloh und Köln-Chorweiler) und durch Alumni-Verteiler verschiedener Begabtenförderungswerke und Stiftungsstipendien rekrutiert. Die interviewten sozialen Aufsteiger*innen aus sogenannten Problemvierteln geben dabei nicht nur Auskunft über den langen Schatten territorialer Stigmatisierung; sie sind auch Zeugnis davon, wie die Erfahrungen territorialer Stigmatisierung häufig mit anderen Dimensionen sozialer Ungleichheit im Zusammenhang stehen – und daher an manchen Subjekten mehr „kleben“ als an anderen. [4]
Da ist zum Beispiel Zlatan, der im Norden Kölns in einem der Hochhäuser von Chorweiler aufgewachsen ist. Seine Eltern waren aus Südosteuropa nach Deutschland gezogen – Zlatan war der erste in der Familie, der das Abitur absolvierte und die Möglichkeit bekam, an einer Universität zu studieren. Zum Zeitpunkt des Interviews arbeitete er als Informatiker und wohnte in einem Innenstadtbezirk Kölns. Doch im Gespräch berichtete Zlatan nachdrücklich, wie er im Zuge seiner sozialen Aufstiegsmobilität immer wieder Schwierigkeiten hatte, nicht als osteuropäischer Ausländer „abgestempelt“ zu werden. Wenn er etwa sagte, er sei ursprünglich aus Chorweiler (und überhaupt nicht aus Osteuropa), reagierten die Menschen besorgt, teils gar verängstigt. „Heute bin ich mir nicht sicher, ob es das [zu sagen, ich sei aus Chorweiler anstatt aus Osteuropa] irgendwie besser macht. […] Man ist immer schockiert, wenn ich Chorweiler erwähne“, beschrieb Zlatan das Dilemma. Bedrückend erzählte er zum Beispiel, welche Reaktion die Formulierung „aufgewachsen in Chorweiler“ bei den Eltern seiner Freundin ausgelöst hatte: „Du kannst Dir vorstellen, wie die mich angeschaut haben!“
Das Interview mit Zlatan veranschaulichte in beeindruckender Weise, wie ethnische Herkunft und der Hintergrund, in einem berüchtigten Viertel aufgewachsen zu sein, sich überkreuzten. Beide Formen der Diskriminierung ergänzten sich gegenseitig und waren kaum isoliert voneinander zu betrachten. Zlatans Versuche, den „Ausländer“-Status loszuwerden, erforderten häufig, dass er sich auf sein deutsches Herkunftsviertel berufen musste – doch auch diese Strategie rief Assoziationen hervor, die er eigentlich „loswerden“ wollte. Tatsächlich war Zlatan nicht der einzige Interviewte in meinem Sample, der trotz sozialer und geographischer Mobilität weiterhin abfälligen, ängstlichen, überraschten oder diskriminierenden Reaktionen ausgesetzt war. So erzählten eine Reihe von Gesprächspartner*innen, wie sie etwa in Unterhaltungen mit Kommiliton*innen an der Uni, in Vorstellungsgesprächen, beim Mittagessen im Arbeitskontext oder in Gesprächen mit neuen Freundinnen und Freunden weiterhin die Auswirkungen des schlechten Rufs ihres alten Viertels erlebten. Und allen voran war dies evident bei Interviewten, die bereits aufgrund ihrer ethnischen Herkunft benachteiligt waren.
Diese Intersektionalität war auch im Gespräch mit Ibrahim deutlich sichtbar. Ibrahim wuchs in Berlin-Neukölln auf und war nach seinem Studium mit seiner Partnerin in die Nähe Münchens gezogen. Der Hochschulabschluss und der gut bezahlte Beruf als Ingenieur – kurzum seine soziale Klassenmobilität – ermöglichten es ihm, wie er es beschrieb, nicht mehr „nur als Türke“ wahrgenommen zu werden. Doch berichtete Ibrahim, dass – sobald er über sein ehemaliges Wohnviertel sprach – dieser Status verloren gehen würde. Schlagartig wäre er nicht mehr der gebildete und studierte Gutverdiener, sondern wieder der alte „Neuköllner Ibrahim“. Wie er während des Interviews erzählte:
„In Berlin war das nie ein Thema […], aber als ich in Süddeutschland war, galt Neukölln wirklich als die Bronx von Deutschland: Das war wie so eine No-go-Area für die, so die Idee einer Parallelgesellschaft, wo sich so alles Schlechte versammelt hat. Die Leute dachten immer, ich sei so Sinnbild des guten Ausländers – aber als ich dann sagte, dass ich, ja, dass ich ursprünglich aus Neukölln war, waren sie immer schockiert, ja angewidert, könnte man sagen. Als ob das so mein wahres Ich plötzlich war, meine richtige Identität. […] Dabei wohnte ich schon super lange gar nicht mehr in Neukölln!“
Interessanterweise unterschied sich Ibrahims Narrativ damit deutlich von einigen „weißen“ Interviewten „ohne Migrationshintergrund“, die nach (und durch) sozialen Aufstieg kaum noch mit den Konsequenzen territorialer Stigmatisierungsprozesse in Berührung kamen. Ohne den „passenden“ ethnischen Background war es für diese Menschen weniger problematisch, aus einem sozialen „Brennpunkt“ zu kommen oder diesen Fakt in ihrem neuen Umfeld zu nennen. Für manche wurde das „Herauskommen aus dem Problemviertel“ gar zu einer Art symbolischem Kapital. Nehmen wir zum Beispiel Maria, die berichtete, wie sie die symbolische Stellung des Herkunftsviertels gezielt benutze, um das eigene Talent, die Leistungsbereitschaft und ihren Fleiß zu betonen. Der räumliche Herkunftsort galt in einer Gesellschaft mit meritokratischem Ideal als Beweis, schwierige unverschuldete Lebenslagen erfolgreich hinter sich zulassen. Wie Maria es selbst beschrieb: „Die Leute wissen […] meine Geschichte eigentlich immer sehr zu schätzen“.
Die Gegenüberstellung von Ibrahims und Marias Erzählungen und ihrer verschiedenen Aufstiegsbiographien offenbart daher: Um die Konsequenzen und gelebten Erfahrungen territorialer Stigmatisierung nachzuvollziehen, ist es ungenügend, nur auf die (frühere) „Adresse“ zu achten. Nicht alle ehemaligen Bewohner*innen verunglimpfter Nachbarschaften erlebten nach ihrem Umzug die Konsequenzen territorialer Stigmatisierungsprozesse im gleichen Ausmaß. Doch sind anhaltende Erfahrungen nicht nur abhängig davon, um was für ein ehemaliges Wohnviertel es sich handelt und wo man nun lebt (wenig überraschend wird eine einstige Bewohnerin eines lokal anrüchigen Hochhauses in einer Kleinstadt in Süddeutschland, die nun in Berlin lebt, weniger in Berührung mit ihrer abgewerteten räumlichen „Herkunft“ kommen als eine ehemalige Marxloherin, die nun in Düsseldorf lebt). Vielmehr steht die „Klebrigkeit“ des räumlichen Stigmas im engen Zusammenhang mit der individuellen sozialen Position und anderen verwobenen Formen sozialer Ungleichheit und deren historischen Machtstrukturen. Im Kontext ihrer Biographie haben es daher insbesondere Menschen wie Ibrahim und Zlatan besonders schwer, den langen Schatten der territorialen Stigmatisierung hinter sich zu lassen.
Author Information
Anthony Miro Born (a.m.born@lse.ac.uk) forscht zu städtischen Ungleichheiten an der London School of Economics and Political Science. Sein Promotionsvorhaben untersucht das meritokratische Ideal im Kontext urbaner Marginalisierungsprozesse. Er ist assoziiertes Mitglied des SFB 1265 und des International Inequalities Institute (LSE). Zuvor arbeitete Miro an der Humboldt-Universität zu Berlin und beim Europäischen Parlament in Brüssel.
References
[1] Tyler, I (2020) Stigma. The Machinery of Inequality. London: Zed Books.
[2] Siehe etwa:
Glasze, G, Pütz, R, Germes, M, et al. (2012) “The same but not the same”: The discursive constitution of large housing estates in Germany, France, and Poland. Urban Geography 33(8): 1192–1211;
Eksner, HJ (2013) Revisiting the ‘ghetto’ in the New Berlin Republic: Immigrant youths, territorial stigmatisation and the devaluation of local educational capital, 1999-2010. Social Anthropology 21(3): 336–355;
Kadıoğlu, D (2022) Producing gentrifiable neighborhoods: Race, stigma and struggle in Berlin-Neukölln. Housing Studies. Epub ahead of print 23 February 2022. DOI: 10.1080/02673037.2022.2042494.
Empfehlenswert ist in diesem Kontext auch die Lektüre von Reineckes Wissensgeschichte zu urbanen Problemzonen:
Reinecke, C (2021) Die Ungleichheit der Städte: Urbane Problemzonen im postkolonialen Frankreich und der Bundesrepublik. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.
[3] Siehe:
Wacquant, L (2017) Die Verdammten der Stadt. Eine vergleichende Soziologie fortgeschrittener Marginalität. Wiesbaden: Springer.
Für ein kürzlich erschienes Review zu Erfahrungen und Bewältigungsstrategien territorialer Stigmatisierung siehe:
Halliday, E, Brennan, L, Bambra, C, et al. (2021) ‘It is surprising how much nonsense you hear’: How residents experience and react to living in a stigmatised place. A narrative synthesis of the qualitative evidence. Health & Place 68: 1–13.
[4] Siehe diesbezüglich auch:
Born, AM (2022) The long shadow of territorial stigma: Upward social mobility and the symbolic baggage of the old neighbourhood. Urban Studies. Epub ahead of print 28 July 2022. DOI: 10.1177/00420980221106340.