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Vom Lessing-Denkmal bis zum Landwehrkanal

26. Mai 2023

Im Rahmen meiner Masterthesis „Entwicklung und Raumkonstitution historischer innerstädtischer Brachflächen. Vague Places: Über Public-Private-Partnerships und Place Making im Kontext der Berliner Mauer“ ist unter anderem dieser leibsoziologische Spaziergang entstanden. Als qualitative phänomenologisch-interpretative Methode der Raumerfahrung des ›sich bewegens‹, in Tradition des ›Gehen‹ Wilhelm Heinrich Riehls (*1823–1897), dem ›Flanieren‹ Walter Benjamins (*1892–1940) oder dem ›Dérive‹ Guy Debords (*1931–1994) stellt Lucius Burkhardts (*1925–2003) ›Spaziergangswissenschaft‹ hier den zentralen Ausgangspunkt dar. Elementar ist seine Grundannahme, dass sich zwischen „Spaziergänger[:in] und […] Betrachtungsfeld […] ein System“ einstellt, welches „die Betrachtung steuert, das von der Betrachtung auf das Objekt zurückwirkt“ (Burckhardt, 2008, S. 258). Burckhardt verweist hier also auf das dialektische Verhältnis von Subjekt-Objekt-Relationen eines Karl Japsers, bei dem er promovierte. Die menschliche Wahrnehmung ist stets a priori durch vergangene Wahrnehmungen bedingt, also durch Erfahrungen und Imaginationen (ebd., S. 259). Das Ziel dieser Methode ist es, „Eindrücke zu sammeln und zu eindrücklichen Bilderketten aufzureihen“ (ebd., S. 265) um unentdeckte Impressionen, Objekte und Konstitutionen der Landschaft erfahrbar zu machen, sie zu dokumentieren und in den analytischen Diskurs einzubinden. Mittels Digitalkamera, Smartwatch (mit ›Aktivitätsaufzeichnung‹), Smartphone (und über den gesamten Spaziergang aufzeichnender Memofunktion) sowie einseitigem Headset begab ich mich auf Exploration eines historisch signifikanten Ortes, dem ›Potsdamer Platz‹.

Abb. 1: Untersuchungsort Potsdamer Platz, Quartiere und genauer Spaziergangsverlauf, Wegstrecke 3.8km, Bewegungsdauer 1:08h.

Die Mauerreste am Potsdamer Platz markieren Start- und Zielort meines Spaziergangs an einem bewölkten Mittwochmittag im Frühsommer 2022. Ich blicke mich um und nehme die scharfen Konturen der mich umgebenden Hochhäuser wahr. Ob die Architekten Kollhoff (Kollhoff-Tower; ehem. Debis-Areal) und Hilmer & Sattler und Albrecht (Beisheim Center, Lenné-Dreieck) bewusst die Besuchenden und Berliner:innen irritieren wollten mit ihren emporragenden Gebäuden, welche an die Hochhäuser der sich rasant entwickelnden amerikanischen Großstädte des frühen 20. Jahrhunderts wie New York oder Chicago erinnern, ist fraglich, denn dazwischen platziert ist das modern gestaltete Hochhaus Helmut Jahns (DB Tower, Esplanade-Dreieck). Will der Potsdamer Platz nun zukunftsweisend und modern sein oder in importierten Erinnerungen schwelgen und temporal an das stadtplanerische Narrativ der ›Kritischen Rekonstruktion‹ anknüpfen? Der Platz ist unübersehbar durch die beiden S-Bahnhof-Eingänge bezeichnet. „Bahnhof Potsdamer Platz“ steht hier in großen Buchstaben. Im Anblick der Baustellenverkleidungen, den verblichenen roten Markierungen auf Gehweg und Mittelstreifen sowie den zahlreichen schwarzen Kaugummis auf dem Boden, wirkt der Platz desolat und passt doch in das ›Bild‹ Berlins. Der ›rhythmische‹ Verkehrslärm bestimmt zwischen Fremdsprachen vorbeiströmender Tourist:innen die Geräuschkulisse. Ich widme mich der sechsteiligen Mauerrest-Freiluftausstellung. Interessierte begutachten ebenso die Erinnerungsstücke, die neben dem marginal abgesetzten Mauerverlauf einzig auf die Besonderheit dieses Ortes verweisen. Die vermutete, konstruktiv bedingte Materialität der Vorderlandmauer entpuppt sich als soziale Praxis: Die Mauerstücke werden von Passant:innen mit Kaugummis versehen. Entsteht hier eine kollektiv produzierte Umdeutung der Mauer zum authentischen Berlin-Gästebuch? Die bei Liebespaaren mitunter etabliert Praxis des Hinterlassens signierter Hängeschlösser ist auch hier vorzufinden. Ich male mir den Wettstreit um diese wenigen Centimeter aus.

Ich spaziere gen Brandenburger Tor, passiere einen in Fraktur geschriebenen S-Bahneingang und biege entlang wartender Taxis ab ins Lenné-Dreieck. Die gesäuberten und reflektierenden Fensterscheiben der Gebäude scheinen bezeichnend für die hiesige Ordnung und den Verweis, man solle wohl bei sich selbst bleiben, denn hinter den leicht getönten Scheiben gibt es nichts für die meinigen Augen zu entdecken, es wird nichts bespielt. Umgeben von gleichgestalteten Gebäuden markiert der Brunnen mit Skulptur das Zentrum des Lenné-Dreiecks. Die Gäste des angrenzenden Cafés beobachten und lauschen zwangsweise dem hochfrequenten Pfeifen eines Nass-Trockensaugers, der zur Reinigung des Brunnens gerade in Verwendung ist. Verkehr herrscht hier nicht, also bewege ich mich auf der Fahrbahn gen Tiergarten und treffe unvermittelt auf eine mobile Toilettenkabine, ohne Baustelle in Sichtweite. Gegenüber vom Lessingdenkmal setze ich meinen Spaziergang gen Sony-Center und Henriette-Herz Park fort und stoße abermals auf eine ›ToiToi-Toilette‹ an der durch Kamera sowie Poller gesicherten Einfahrt zum von Chipperfield gestalteten Appartementkomplex. Die Appartements wirken unbewohnt und die Fenster sind mit den für Büros und Arztpraxen typischen Lamellenvorhängen zugezogen. Die Freifläche hier verfügt über eine mir nicht erschließbare künstliche Topographie.

Abb. 2: Spaziergangscollage im Uhrzeigersinn: Kollhoff-Tower (ehem. Debis-Areal) vor Mauersegment, hinausgetragener Sand am Spielplatz des Sony-Centers (Esplanade-Dreieck), demolierte Bank am Henriette-Herz Park und Toilettenkabine in der Auguste-Hauschner-Straße (Lenné-Dreieck).

Den Park durchschritten, erreiche ich einige demolierte Sitzbänke, die die Sicht auf das steinerne Grau Chipperfields Architektur ermöglichen und finde mich am Sony-Areal unweit des denkmalgeschützten, im Baugerüst verhüllten Hotel Esplanade wieder. Reflektierende gläserne Fassaden lassen abermals unbespielte Einblicke zu, sodass ich mich selbst im Raum wahrnehme. Das grün-gräuliche Farbschema wird durchbrochen beim mittelbaren Eintritt in das Sony Center. Die rot gestalteten platzierten Elemente fallen ins Auge, die Funktion erschließt sich durch das Schild: Es ist ein Spielplatz und keine skulpturale moderne Kunst. Der von spielenden Kindern herausgetragene Sand des Sandkastens wirkt wie kindlicher Trotz auf die klinische Umgebung. Die Aufrechterhaltung der Ordnung erscheint elementar für den Potsdamer Platz in Hinsicht auf Privateigentum: Fenster sind durchweg geputzt und der Boden von Abfall und Dreck bereinigt – im Kontrast zu den kaputten städtischen Bänken und überfüllten BSR-Müllbehältern des Henriette-Herz Parks. Spielende Kinder erblicke ich nicht, wie auch sonst nur vereinzelt Personen meine Wege kreuzen. Ich trete in den zirkuszeltartigen überdachten halböffentlichen Raum des Sony-Centers ein. Umbaumaßnahmen bestimmen meine Raumwahrnehmung. Die beiden einzigen verbliebenen offenen Restaurants sind spärlich besucht. Personen treten vom Potsdamer Platz kommend in das Sony – Center hinein, blicken ebenso empor und sind affiziert. Subjektiv empfinde ich überdachte Plätze befremdlich, der Wille die Umwelt zu kontrollieren und dennoch mit ihr verbunden zu sein, produziert mitunter seltsame Arrangements und Architekturen. Dem Baustellen- und Transformationsgeist des Potsdamer Platzes begegne ich immer wieder. Der Geist der ehemals größten Baustelle Europas und deren Inszenierung wirken offenbar noch nach. Neben dem Umbau des Kinos und einiger Restaurants wurde auch der zentral platzierte Brunnen stillgelegt. Ein Blick nach links durch den gläsernen Boden hinunter ins Untergeschoss unterstreicht die Baumaßnahmen: ein riesiger Raum mit unverputzten Wänden und außerordentlich vielen Bauabfällen. Auch andere Passanten werfen einen Blick hinab in den ›Müllschlucker‹ und sind mindestens so verdutzt, wie ich es bin. Die Ordnung zerfällt offenbar in den Nischen. Gen Kulturforum passiere ich eine kleine ›Tartan-Parkanlage‹ mit verspiegeltem Kasten. Das natürliche Grün wirkt in dieser artifiziell-reflektierenden Umgebung unnatürlich, paradoxerweise dennoch auf mich einladend. Ob die an Bäumen angebrachten Vogelhäuser bewohnt sind, bleibt mir jedoch verborgen. Ich erreiche die Bundesstraße 1 – Potsdamer Straße. Ein sicheres Überqueren, ohne den Fußgängerüberweg zu nutzen, ist möglich. Der hiesige Mittelstreifen wurde 2010 als ›Boulevard der Stars‹ von Graft Architects angelegt. Der vom Mittelstreifen auf die Gehwege übergreifende rote Bodenbelag und die in den Boden eingelassenen Sterne wirken so in die Jahre gekommen wie es die ›Stars‹ vermutlich auch sind. Die platzierten goldenen Stelen, die diese Persönlichkeiten in den Raum illuminieren sollen, sind zum Großteil defekt, die Hinweistafel teils unlesbar und der Boden gesäumt von zersplitterten Glasflaschen. Hochmut kommt vor dem Fall. Ich quere die Fahrbahn und befinde mich auf dem Debis-Areal und bemerke, dass sich hier nahezu keinerlei Erdgeschossnutzungen etabliert haben. Ich bewege mich in Richtung des historischen Weinhaus Huth, passiere ein weiteres Kino wo ich wider Erwartung auf deplatzierte kaugummifreie Mauerstücke stoße. Die Mauer verlief hier nicht entlang, einen erklärenden Hinweis gibt es nicht.

Abb. 3: Spaziergangscollage von oben nach unten: Bauabfälle im Untergeschoss im Sony-Center (Esplanade-Dreieck), Tartan-Bahn und Parkanlage samt Branding und Vogelhäuschen (ebd.) und deplatziertes nicht angeeignetes Mauersegment in der Voxstraße (ehem. Debis-Areal).

An den verschiedenen ›Wandeingängen‹ rauchen einzelne Personen nüchtern ihre Zigaretten. Die Kreuzung am Weinhaus Huth, die den Eingang zu den sich ebenfalls im Umbau befindlichen ›Potsdamer Platz Arkaden‹ markiert, erinnert an einen kleinen städtischen Platz. Ein paar Gäste haben sich in den angrenzenden Cafés niedergelassen und unterhalten sich rege. Das mittlerweile gewohnte hochfrequente Rauschen technischer Gerätschaften, die mit hohen Drehzahlen arbeiten, ist wieder akustisch dominant. Ich durchschreite den verschließbaren Durchgang des Weinhaus Huths, passiere eine geschlossene Gaststätte und finde mich am südlichen Teil des Potsdamer Platz wieder, von dem sich gen Süden ein bandähnlicher, topographisch verwobener Raum eröffnet. Es fiept, eine Baustelle ist nebenan. Ich verknüpfe die nördliche Parktopografie mit der südlichen und setze sie gedanklich fort. Ob es einen geplanten Zusammenhang gibt, vermag ich nicht zu behaupten, denn der hier befindliche Park muss eine Hommage an die Gleisanlagen des alten Potsdamer Platz Kopfbahnhofs sein. Die Erhebung versperrt mir die Sicht auf die Parkkolonnaden. Ich quere die Straße und durchschreite den von Tauben bevölkerten gepflasterten Abschnitt, die offensichtlich ihre letzte Scheu vor dem Menschen verloren haben. Parkbänke sind von einzelnen Personen besetzt und der betäubende Geruch von Cannabis macht sich breit. Irritiert betrachte ich die Erhebung vor mir, deren Hang offensichtlich häufiger erklommen wird. Ich überlege ebenso hinaufzusteigen, um mir einen besseren Überblick des sich vor mir in Richtung Süden erstreckenden Parks zu ermöglichen, zögere und entschließe mich aus Unsicherheit dagegen. Zurück im Debis-Areal dringt der Verkehrslärm der B1 nicht hinüber. Die teils üppigen gläsernen Fassaden und die durch Umbaumaßnahmen geschlossenen Geschäfte innerhalb der Arkaden verstärken den Effekt des singulären Subjekts im öffentlichen Raum. Ich begegne zwei Personen des Unternehmens Brookfield mit Sicherheitshelmen und Bauwesten bekleidet, die sich lautstark über zukünftige Eventplanungen unterhalten und offensichtlich bereits über lebhafte Imaginationen zu diesem Ort verfügen. Ein Blick an den Fassaden entlang offenbart bewohnte und arrangierte Balkone. Ich biege rechts ins Quartier ab, sehe das andere Ende der geschlossenen Potsdamer Platz Arkaden und beobachte, wie zwei Fensterputzer eifrig die großen Glasflächen von innen und außen reinigen. Mich überrascht jeder Blick in die buchstäblich polierten Fensterscheiben, welche ich als pathologische Wahrung der Ordnung verstehe. Am südlichen Ende des Areals eröffnet sich vor mir eine vielbefahrene Straße, gesäumt von einer mit Schilf geprägten fließenden Gewässerlandschaft. Der Landwehrkanal ist flankiert von der B96. Mittendrin die Botschaft des neuen Quartiers: „POTSDAMER PLATZ – FEEL THE PULSE OF PROGRESS“. Unmissverständlicher kann die Investorenbotschaft nicht kommuniziert werden. Ob nun Fortschritt oder doch nur Transformation, so wandle ich dem besänftigenden Gewässer mit naturalistisch, verwildert gestaltetem Ufer entlang. Trotz des Verkehrslärms der Tiergartentunnelöffnung, welcher sich mit jedem Schritt in Richtung Norden reduziert, kann ich meiner Umgebung einiges abgewinnen. Ein sonnenverblichenes Hinweisschild strukturiert und ordnet mich jedoch gleich wieder und ermahnt, bloß nicht diese inszenierte Landschaft zu betreten – ganz wie im Naturschutzgebiet, nur eben im ›Neuen Herzen Berlins‹, wie es der regierender Bürgermeister West-Berlins Walter Momper am 13.11.1989 im Zuge des Mauerfalls feierlich verkündete (SZ).

Abb. 4: Spaziergangscollage im Uhrzeigersinn: Rastende Taube am Kopfe des Tilla-Durieux-Parks zwischen Debis-Areal und Parkkolonaden, Fensterreiniger bei der Ordnungswahrung in der Eichhornstraße (Debis-Areal), Werbeplakat am Reichpietschufer südlich des Debis-Areals und verblichenes Verbotsschild am Theaterufer (ebd.).

So recht synthetisiere ich die räumlich weit entfernten Orte des Debis-Areals nicht mit dem Potsdamer Platz. Die sich wiederholende Monotonie gläserner Fassaden offenbaren den akuten Leerstand der Erdgeschosszonen. Vor mir erstreckt sich der unbelebte Marlene-Dietrich Platz, der ›Glanz‹ der Berlinale erscheint hier nahezu unwirklich. Ich drehe mich um und erblicke die von Brookfield zugeklebte Fassadenfront der ausgezogenen McDonald’s Filiale, die mir ebenfalls mitteilt, den ›Puls des Fortschritts‹ zu spüren. Ich folge der alten Potsdamer Straße gen Potsdamer Platz, nehme spontan den Umweg der sich mir seitlichen eröffnenden breiten Treppe und trete empor in eine halböffentliche Zwischenebene, die mich mit sichtbarer Bepflanzung anlockte.

Oben angelangt ernüchtert mich die Ödnis, der weitere Zugang zum Grün ist Mieter:innen vorbehalten. In dieser Nische bestimmen die verdreckten, bodentiefen Fenster der leeren und mutmaßlich im Umbau befindlichen Gebäude, die der sonstigen Ordnungen entfliehen, meine Wahrnehmung. Die andere Treppe hinunter, deren Treppenlauf bunt gestaltet ist und an die ortsproduzierenden Gestaltungsmaßnahmen der in den Hang gebauten marginalisierten Viertel Lateinamerikas erinnert, wird gerade nur von einer Frau bespielt, die vertieft mit ihrem Smartphone interagiert. Am Weinhaus Huth sitzen teilweise noch die gleichen Personen im Café, die die Kulisse etwas beleben. Am südlichen Potsdamer Platz kommt auch die ›Stadt‹ wieder ins Bewusstsein. Der durch Siemens und Daimler gestiftete rekonstruierte Verkehrsturm[1] aus den 20er Jahren des vergangenen Jahrhunderts offenbart sich mir inklusive des dominierenden Verkehrs und der vom Leipziger Platz strömenden Tourist:innen. Auf dem Vorplatz versammelt gespannt sich eine Menschentraube um einen ›City-Guide‹, bevor sie in Richtung Stresemannstraße, dem Mauerverlauf entlang hinunterziehen. Ich überquere die Straße abermals und befinde mich wieder am Ausgangspunkt meines Spaziergangs an den platzierten Mauerresten, um die sich gerade doch eine größere Anzahl Personen scharen um zu erfahren, was an diesem Ort existierte und nur peripher überdauerte.

Abb. 5: Ikonischer Verkehrsturm zwischen DB-Tower (Esplanade-Dreieck), samt ortsproduzierenden bunten Treppenlauf an der Ludwig-Beck-Straße/Alte Potsdamer Straße, und Beisheim-Center (Lenné-Dreieck).

Resümierend zeichnet der Ort ›Potsdamer Platz‹ ein äußerst polarisierendes, vages und überlagerndes Bild. So zentral und kontrovers dieser Raum im städtischen Gefüge Berlins für Bewohnende, Erwerbstätige, Besuchende und Reisende sein mag, verfügt dieser über spezifische Qualitäten, die ihm inhärent sind. Die Wirkmacht groß angelegter Stadtentwicklungsprojekte an historisch signifikanten Brachflächen, wie dem hier untersuchten ehemaligen Berliner Mauerraum, ist evident. Stadterneuerung in Zeiten liberaler und optimistisch-programmatischer Stadtentwicklungen, wie im Berlin der 1990er Jahre, im Rahmen öffentlicher-privater Partnerschaften, als Folge tiefroter Finanzhaushalte, offenbaren nicht nur im Bauprozess wie der andauernden ›Bauschaustellungen‹ und scheinbar andauernden Veränderung (nicht nur in architektonischer, nutzungs- und eigentumsbezogener Hinsicht) bereits Place Making, sondern sind auch durch eine Vielzahl ortproduzierender, sinnlich affizierender Gestaltungsmaßnahmen gekennzeichnet. Nur durch das Evozieren von Emotionen, gleich ihrer Tonalität, können Orte sich in städtischen Alltagswirklichkeiten konstituieren. Die hier produzierten Räume sind vielschichtig und ständig am re-figurieren. Die so scheinbar omnipräsent gewahrte Ordnung und die zahlreichen kognitiven Bilder dieses Platzes zerfallen jedoch an den offenbarten Grenzen, Nischen und Bahnen, die in der Gesamtschau den Ortsbesuchenden und -nutzenden verborgen bleiben sollen, sich dieser Ordnung widersetzen und doch wieder diesen umstrittenen Ort und die Eigenlogik Berlins widerspiegeln. Der Ort wird neu besetzt, oder besser, historisch reproduzierend versucht neu zu besetzen mittels städteplanerischer Leitmotive wie einem wiedervereinten Berlin und der ›Kritischen Rekonstruktion‹ entgegen kleinteiliger organischer Entwicklungen oder mahnenden Parkräumen wie die Entwurfsvorschläge renommierter Stararchitekt:innen wie Zaha Hadid, Jean Nouvel oder Norman Foster. Das unausweichliche Schicksal innerstädtischer historisch signifikanter Konversionsflächen? Erinnerungskultur und das räumlich-historische Erbe wird hier kuratiert zur Gewährleistung größerer Ziele: Der Mauerstreifen erschien wohl damals einer Berliner wie gesamtdeutschen Wiedervereinigung kontraproduktiv und der Mythos Potsdamer Platz zu attraktiv.

Über den Autor: Christopher Heidecke, Urbanist und Soziologe, ist seit 12/2022 wissenschaftlicher Mitarbeiter am SFB 1265. Er ist zuständig für die Wissenschaftskommunikation und Medienkoordination und begleitet den SFB 1265 seit dessen Initiierung als studentische Hilfskraft am Fachgebiet Martina Löws. Seine Forschungsschwerpunkte sind qualitative Raumforschung, Mappings, integrative Stadtentwicklung, Stadterneuerung, Raumkonflikte und -aneignung sowie Wissenssoziologie.


Anmerkungen:

[1] Im Sommer 1997 stifteten die Siemens AG und Daimler-Benz AG den ikonischen Verkehrsturm, welcher die erste Lichtzeichenanlage Deutschlands darstellte und den Verkehrsfluss des Potsdamer Platzes im Zeitraum 1924–1936 regelte, bevor eine herkömmlich Ampelanlage installiert wurde (Frank, 2008, S. 312).

Bildrechte: Sämtliche grafischen Inhalte wurden selbstständig erstellt und obliegen dem Autor.

Literatur:

Burckhardt, L., Ritter, M., & Schmitz, M. (2008). Warum ist Landschaft schön?: Die Spaziergangswissenschaft. Berlin: Martin Schmitz Verlag, 257–281.

Frank, S. (2008). Mythenmaschine Potsdamer Platz: Die wort- und bildgewaltige Entwicklung des Neuen Potsdamer Platzes 1989–1998. In T. Biskup (Hg.), Selling Berlin. Imagebildung und Stadtmarketing von der preußischen Residenz bis zur Bundeshauptstadt (297–319). Stuttgart: Franz Steiner.

Süddeutsche Zeitung (13.11.1989), Momper: Berlins Herz wird wieder schlagen. Abrufbar unter: https://www.remote.org/frederik/culture/berlin/sz-13-11-01-03.html
(letzter Zugriff am 06.06.2022).