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SFB1265 goes DGS

27. Oktober 2020

Die um sich greifende Verbreitung digitaler Technologien sowie weltweite Prozesse der Entgrenzung, die gemeinhin mit dem Begriff der Globalisierung bezeichnet werden, aber auch Praktiken der Begrenzung – von Fabian Gülzau in seinem Vortrag einprägsam als „Mauerbaufieber“ betitelt – verändern die Art und Weise, wie Menschen Räume erfahren, aber auch die Art und Weise, wie sie diese erschaffen. Auf diesen Wandel wirft der Sonderforschungsbereich (SFB) 1265 „Re-Figuration von Räumen“ seit Januar 2018 einen forschenden Blick. In der Sonderveranstaltung „SFB 1265 goes DGS“ im Rahmen des 40. Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Soziologie am 16. September 2020 gewährten Johanna Hoerning, Fabian Gülzau und Anna Steigemann Einblicke in einzelne Forschungsprojekte des SFBs, die sich mit unterschiedlichen Raumpolitiken befassen. Ergänzt wurden ihre Beiträge um eine Reflexion der wissenschaftlichen Arbeit an und im Sonderforschungsbereich selbst durch Séverine Marguin.

Zunächst jedoch stellte Martina Löw (Sprecherin des SFBs 1265) den Sonderforschungsbereich in Kürze vor und verwies dabei auf eine Besonderheit der Öffentlichkeitsarbeit des SFBs, die unter anderem einen konkreten Zusammenhang zum DGS-Kongress aufweist: So legt der SFB in der Reflexion seiner Arbeit auch Wert auf die Verwendung künstlerischer Methoden. Ein Ergebnis dieser Überlegungen stellt die temporäre Installation des Kunst- und Forschungsprojektes „MIGRATOURISPACE, Raummigration und Tourismus“ an der BHR-OX bauhaus reuse durch die Künstlerin Stefanie Bürkle dar. So erhielt der ins digitale Format übertragene DGS-Kongress einen physischen Anhaltspunkt am Berliner Ernst-Reuter Platz.[1]

Die Reihe der Präsentationen eröffnete Johanna Hoerning (TU Berlin), die den Teilnehmer*innen unter dem Titel „Interessenspolitik zwischen Skalen, Territorien und Orten“ eine Vorstellung ihrer Forschungsarbeit im Rahmen des Teilprojektes C03 „Nichtregierungsorganisationen: Strategien räumlicher Ordnungsbildung“ vermittelte. Im Hintergrund ihres Vortrages stand die Frage nach sich wandelnden Verhältnissen zwischen lokalen, regionalen, nationalen und globalen Kontexten, welche die Arbeit von Nichtregierungsorganisationen (NGOs) in den Feldern der Wohn- und Asylpolitik beeinflussen, durch diese Akteure aber auch neu verhandelt werden. Zunächst stellte Hoerning die beiden Politikfelder und die sie kennzeichnenden Strukturierungsprozesse vor. Für die Asylpolitik beschrieb sie drei grundsätzlich relevante Entwicklungstendenzen: 1. Globale und regionale Fragmentierung / Renationalisierung, 2. Externalisierung und 3. Lokalisierung. Die Wohnungspolitik sei vor allem durch zwei dominante Restrukturierungen gekennzeichnet: 1. Translokalisierung und 2. Regionalisierung. Im Anschluss an diese Skizzen der Politikfelder führte Hoerning Praktiken der Reskalierung sowie Praktiken der Verortung an, mit denen die beforschten Akteure auf die jeweiligen politischen wie ökonomischen Entwicklungstendenzen in ihrem Metier reagieren. Eine Form der Reskalierung etwa stellt das „downscaling“ in der strategischen Wahl der Ansprechpartner dar. Hoerning veranschaulichte dies anhand einer NGO aus den USA, die sich nach der Wahl Donald Trumps zum Präsidenten Allianzen auf anderen politischen Ebenen suchen musste. Im Feld der Wohnungspolitik hingegen, welches zunehmend durch überregionale und sogar global agierende Investoren geprägt wird (Translokalisierung), lässt sich ein entsprechendes „upscaling“ der gebildeten Kooperationen beobachten, welche die vormals lokal-begrenzten Partnerschaften durch weitreichendere Vernetzungen ergänzen. Neben diesen Prozessen der Reskalierung identifiziert Hoerning in ihrer Forschung unterschiedliche Logiken der Verortung. Verortung wird dabei jeweils „als Kontingenz, als neuralgischer Punkt oder als institutionelle Verdichtung“ hervorgehoben. Zur Differenzierung dieser Logiken dient die Wahl derjenigen Orte, welche die NGOs als Niederlassungen ihrer Organisation wählen. Mal erscheint die Wahl als wenig relevant und eher zufällig, mal ist der Sitz der Organisation von symbolischer Bedeutung und mal ist die physische Nähe zu politischen Institutionen entscheidend. Skalierungen, Verortungen und Territorialisierungen sind, dies betonte Hoerning in ihrem Fazit, zwar abgrenzbare Setzungen, sie sind jedoch zugleich durch überschreitende Vernetzungen geprägt. Obwohl Skalen als solche Setzungen Eindeutigkeit suggerieren, seien sie daher nur relational zu verstehen. Auf die Nachfrage hin, welchen Beitrag die Soziologie zur Skalenforschung leisten könne, verweist Hoerning auf die Differenzierung verschiedener Akteure, die an der Produktion von Skalen beteiligt sind, sowie auf ein tiefergehendes Verständnis derjenigen Prozesse, die dazu führen, dass bestimmte Maßstabsebenen in bestimmten Kontexten relevant werden. Für beides sensibilisiere eine explizit soziologische Betrachtungsweise.

Im Anschluss an Hoernings Vortrag thematisierte Fabian Gülzau (HU Berlin) in seiner Präsentation „(Im)mobilisierung. Die Re-Figuration von Grenzen in globaler Perspektive“ die Veränderungen und Umformungen, welche die räumliche Artikulation der Grenze erfahren hat und gegenwärtig erfährt. In Rückbezug auf Habermas definierte Gülzau Grenzen als Schleusen, mit denen auf Strömungen reagiert wird. Dabei identifizierte er verschiedene Entwicklungen in der Art und Weise wie Staaten Grenzen errichten. Zum einen lässt sich beobachten, dass diese versuchen Grenzen zu implementieren, die nicht mehr entweder offen oder geschlossen sind, sondern die sich als semi-permeable Filter bezeichnen lassen. Für manche, die gedenken, sie zu überschreiten und zu durchqueren, stellen sie sich als harte, kaum zu überwindende Abgrenzungen dar. Für andere jedoch sind sie als Begrenzungen kaum spürbar und für ihre Mobilität wenig hinderlich. Zum anderen verzeichnet Gülzau in Anlehnung an Shachar eine Entwicklung von statischen Grenzen hin zu shifting borders. Als Antriebskräfte hinter diesen Umformungen werden Prozesse des „De-Bordering“, gemeint sind etwa Globalisierungsphänomene wie Massentourismus oder der Handel mit Waren, sowie Prozesse des „Re-Bordering“ genannt. Letzteres beschreibt beispielsweise Auswirkungen des Terrorismus und der Kriminalität, aber auch der unerwünschten Migration und Tendenzen der Nationalisierung auf die Selektionsmechanismen, die an den Grenzen ihre Wirksamkeit entfalten. Vor diesem Hintergrund definiert Gülzau drei Entwicklungslinien entlang derer sich Grenzen wandeln: Exterritorialisierung, Fortifizierung und Flexibilisierung. Ersteres bezeichnet die räumlich-vorverlagerte Kontrolle von Überschreitungswilligen, bevor diese die eigentliche Grenze erreichen. Diese Visumspraktik führt zu einer ungleichen Verteilung globaler Mobilität. Der massive Ausbau von Grenzanlagen an der Territoriallinie selbst wird hingegen unter dem Begriff der Fortifizierung gefasst. Solche „Verdickungen“ von Grenzen führen, so Gülzau, zu Diskontinuitätslinien zwischen Staaten. Im Gegensatz zu exterritorialisierten Grenzen, bei denen Kontrollpraktiken vorverlagert werden, wird mit der Bezeichnung der Flexibilisierung eine Verlagerung von Kontrollen ins Landesinnere markiert. Als Beispiel für diese Formung der Grenze wird der Schengen-Raum genannt, in welchem etwa temporäre oder polizeiliche Kontrollen gängig sind. Aufmerksam macht der Vortragende hier selbstverständlich auch auf die veränderte Wahrnehmung dieser Begrenzungslogik im Schengen-Raum durch die COVID19-Pandemie. Es sind diese drei Dimensionen der Exterritorialisierung, der Fortifizierung und der Flexibilisierung, welche Gülzau als die Merkmale einer Re-Figuration von Grenzen kennzeichnet. Trotz aller Prozesse des „De-Bordering“, die sich vor allem punktuell durchsetzen würden, wird die Kontrollfunktion von Grenzen folglich keineswegs aufgegeben. Damit geht eine Verabschiedung von klar umrissenen und eindeutigen Grenzen einher; vielmehr, so beschließt Gülzau seinen Vortrag, müsse man von einer Überlappung und Diffusion verschiedener Grenzformationen sprechen.

Eine andere Form des ins Verhältnissetzens von verschiedenen Räumen zueinander präsentierte darauf hin Anna Steigemann (TU Berlin). Unter der Überschrift „Spatial Politics in Refugee Accommodations in Berlin“ befasste sie sich mit den alltäglichen Konstitutionen von Räumen und Praktiken des „Homemaking“ von Geflüchteten, die sich in geplanten und zunächst unpersönlichen Unterkünften wiederfinden. Steigemann greift dazu sowohl auf die Forschung des Teilprojektes A04 „Architectures of Asylum“ als auch auf Erhebungen im Rahmen ihrer Habilitation zurück. Dies ermöglicht es ihr, in ihrem Vortrag neben den räumlichen Praktiken innerhalb der Unterkünfte auch auf die Verhältnisse der Flüchtlinge zu umliegenden Nachbarschaften und anderen Migrant*innen außerhalb der Unterkünfte eingehen zu können. In Berlin etwa zeige sich, dass die eigentlichen Prozesse des „Homemaking“ und ein daraus resultierendes Gefühl des Ankommens für die Interviewten nicht in den von ihnen temporär bewohnten Unterkünften stattfinden, sondern vielmehr in einem anderen Umfeld realisiert werden – hier konkret in dem Gebiet rund um die Sonnenallee in Neukölln. Unter anderem spielten dabei bereits seit längerer Zeit in Deutschland lebende Migrant*innen eine entscheidende Rolle. Steigemann verknüpfte in ihrem Vortrag daher räumliche Konstitutionen und Prozesse der Vergemeinschaftung. Innerhalb der Unterkünfte ist die Re-Figuration von Räumen vor allem durch die Spannung zwischen den Normen und Anforderungen, welche den Bau der Unterkünfte regulieren und die sich materiell in den physischen Merkmalen der Unterkünfte manifestieren, und den Aneignungen seitens der Flüchtlinge selbst gekennzeichnet. Diese passen die räumlichen und materiellen Gegebenheiten ihren Bedürfnissen, Wünschen und Gewohnheiten an. Innerhalb der Unterkünfte sieht Steigemann daher einen alltäglich verhandelten Konflikt zwischen „politics from above“ und „homemaking from below“. Obgleich sich Veränderungen und ein Umdenken im Design der Unterkünfte durchaus abzeichne, fände nichtsdestotrotz ein beachtlicher Teil des „Ankommens“ von Flüchtlingen außerhalb der Unterkünfte statt. Es sind die umliegenden Nachbarschaften, wie die Sonnenallee, in denen es gelinge einen „sense of belonging“ zu entwickeln, welcher über die temporäre Aneignung von Räumen innerhalb der Unterkünfte hinausgeht. Steigemann verzeichnet hier einen Punkt, der aufmerken lässt: Nicht die als privat erscheinenden Wohnunterkünfte bieten ein Gefühl des Rückzugs und der Ankunft. Es sind vielmehr die (semi-)öffentlichen Räume, die ein Gefühl des Zuhauses vermitteln. Hier gewinnt die Erforschung von Architekturen des Asyls, so Steigemann, durch die Hinzunahme soziologischer Überlegungen zu Praktiken der Gemeinschaftsbildung.

Zum Abschluss nahm Séverine Marguin (TU Berlin) in ihrem Beitrag „Kritische (Miss)verständnisse in der Raumforschung“ weniger räumliche Verhältnisse an sich in den Blick, sondern reflektierte stattdessen die wissenschaftliche Erforschung dieser Bezüge selbst. Dabei ging sie über eine Beschäftigung mit den Schwierigkeiten interdisziplinärer Forschung hinaus, indem sie die Frage nach dem Verhältnis von Wissenschaft und Kritik im umfassenderen Sinne stellte. Zunächst skizzierte die Wissenschaftsethnografin unterschiedliche Auffassungen von Kritik in den Feldern der Soziologie und der Architektur, bevor sie das Aufeinandertreffen der jeweiligen Kritikbegriffe in der Arbeit des SFBs 1265 thematisierte. Obgleich sich die Soziologie als kritische Wissenschaft verstehe, sei ihr Verhältnis zur Gesellschaftskritik keineswegs eindeutig. Dies hänge traditionell mit dem Anspruch der Wertefreiheit und der Differenzierung zwischen „Sein und Sollen“ zusammen, welche für die Soziologie als wissenschaftliche Disziplin eine entscheidende Rolle spiele. Innerhalb des soziologischen Diskurses sind, so Marguin, vier verschiedene Auffassungen von Kritik besonderes prominent: 1. Die Position des Kritischen Rationalismus, 2. Kritik als wissenssoziologisch aufgeklärte Gesellschaftskritik und 3. Kritik als konstitutive Aufgabe einer Soziologie, welche die gesellschaftlichen Verhältnisse nicht nur beschreiben, sondern auch problematisieren soll sowie Bedingungen eines guten Lebens zu identifizieren und vorzuschlagen habe. Im Gegensatz dazu hege die 4. Position eher einen Verdacht gegen das anscheinend „Gute“ und die Fruchtbarkeit von Kritik. Während Kritik hier ebenfalls der Problematisierung dient, so verabschiedet sich dieses Selbstverständnis doch von dem Glauben, die Soziologie müsse (oder könne überhaupt) nachhaltige Verbesserungsvorschläge unterbreiten. Marguin hob hervor, dass jede Auffassung von Kritik auf einer spezifischen Auffassung von Wissenschaft, ihrer Funktion sowie ihres Verhältnisses zur Gesellschaft beruht – geht es in erster Linie um eine Beschreibung, eine Erklärung, eine Interpretation oder um eine Intervention seitens der Soziologie? Unterschiedliche Auffassungen dieser Art treffen schon innerhalb der soziologischen Zweige des SFBs aufeinander. Noch komplexer gestaltet sich die Situation, tritt das Kritikverständnis von Gestaltungs- und Planungswissenschaften hinzu, die im SFB ebenfalls vertreten sind. In der Architektur, welche Marguin als Beispiel heranzog, wird Kritik häufig in der Aushandlung mit den Bedingungen der praktischen Arbeit geschärft, beispielsweise im Umgang mit Bauherren und Auftraggeber*innen oder staatlichen Regulierungen. Gleichzeitig schränken diese aber auch Freiräume zur Entfaltung von Kritik ein, welche wiederum in der universitären Beschäftigung mit kritischen Fragen der Architektur – diese betreffen etwa das Verhältnis von Ästhetik und Funktion – gesucht werden. Im Gegensatz zur Soziologie interveniert die Architektur als Praxis zwangsläufig. Wo sie wirkt, verändert sie den Raum. Selbst die theoretischen Überlegungen im universitären Kontext, so Marguin, haben doch zumeist alternative Gestaltungsvorschläge zum Ziel. Es sind diese vielfältigen Kritikauffassungen und die mit ihnen einhergehenden unterschiedlichen Vorstellungen der eigenen Rolle als Wissenschaft, welche Marguin als Quelle einiger Missverständnisse in der Zusammenarbeit am SFB identifiziert. Beispielsweise hegten Architekt*innen gegenüber der Soziologie meist Erwartungen an einen gesellschaftsaufklärerischen Impuls. Dies führt jedoch zu Spannungen, sollten sie dabei auf ein Gegenüber treffen, dessen soziologisches Selbstverständnis von solchen Interventionen und Verbesserungsvorschlägen absieht. Hier zeichnen sich neben unterschiedlichen Auffassungen von Kritik auch divergierende Haltungen zur Diagnose und Prognose (sowie deren Verhältnis zueinander) ab. Die Überwindung dieser kritischen Missverständnisse sieht Marguin als beständige Herausforderung der gemeinschaftlichen Forschungsarbeit, aber auch Chance, Neues auszuprobieren und von kritischen Impulsen der verschiedenen Disziplinen zu profitieren.

Die Beiträge der Sonderveranstaltung zeigten, trotz einiger thematischer Schnittmengen – etwa hinsichtlich Fragen des Asyls oder Praktiken der Externalisierung –, doch vielfältige empirische Beispiele und unterschiedliche analytische Zugänge auf, die verdeutlichten, wie sich die soziale Organisation von Räumen und die räumliche Organisation des Sozialen immer wieder gegenseitig beeinflussen. Der wissensethnografische Abschluss der Sitzung über die Eigenarten in den unterschiedlichen Disziplinen der Raumforschung bot darüber hinaus weitere Anregungen zur theoretischen Reflexion des Sonderforschungsbereichs, die – darauf verwiesen die Reaktionen aus dem Publikum – durchaus auf ein nachhaltiges Interesse stoßen dürften.

Die Frage danach, was die Soziologie als Wissenschaft zu leisten vermag, aber auch was sie in Anbetracht gesellschaftlicher Entwicklungen können müsste, wie schon im Hintergrund von Séverine Marguins Vortrag angedeutet, leitete auch die zweite Veranstaltung des SFBs 1265 im Rahmens des diesjährigen DGS-Kongresses ein. Am Abend des 17. September 2020 fand die einzige Präsenzveranstaltung der Konferenz im großen Hörsaal der TU Berlin statt. Auf Grund der Corona-Auflagen war die Zahl der vor Ort Teilnehmenden zwar auf ca. 25 Personen begrenzt. Gleichzeitig verfolgten jedoch bis zu 400 Interessierte über den YouTube LiveStream die Impulsvorträge von Hartmut Rosa (Friedrich-Schiller Universität Jena), Andreas Reckwitz (HU Berlin) und Martina Löw (TU Berlin) sowie die anschließende Podiumsdiskussion. Die von Hubert Knoblauch (TU Berlin) organisierte und von Silke Steets (FAU Erlangen) moderierte Sonderveranstaltung stand unter dem Titel „Gesellschaft unter Spannung – Sonderveranstaltung zu soziologischen Diagnosen der gegenwärtigen Um_Ordnungen mit oder nach Corona“ und fokussierte entsprechend das diagnostische Potential der Soziologie. Dabei ging es in der Gegenüberstellung der unterschiedlichen gesellschaftstheoretischen Überlegungen der einzelnen Diskutant*innen nicht nur um die Analyse einer Gesellschaft, die sich mit einer global verbreiteten Pandemie konfrontiert sieht, sondern auch um eine Reflexion über die Möglichkeiten, Ansprüche und Begrenzungen soziologischer Zeitdiagnosen im Allgemeinen – einer, wie Silke Steets dies formulierte, „Soziologie der soziologischen Zeitdiagnose“.

Mit Blick auf die mobilitätspolitische Eindämmung der Bewegungsprofile von allerlei Fahr- und Flugzeugen, von Gütern und Waren, aber auch von Privatpersonen beschreibt Hartmut Rosa die Folgen der Corona-Pandemie als „gewaltiges Entschleunigungsgeschehen“. Die Diagnose einer entschleunigten Gesellschaft ist dabei keineswegs als Teil eines Achtsamkeitsdiskurses zu verstehen, sondern sei zunächst einmal die nüchterne Schilderung eines seismografisch messbaren Rückgangs der Mobilität. Während die Welt zunächst stillgestellt, angehalten und gebremst erscheint, findet im digitalen Austausch Vernetzung, man ist beinahe versucht zu sagen, Weltgeschehen statt. Rosa verweist hier auf Paul Virillios berühmte Konzeption des „Rasenden Stillstandes“. Aus gesellschaftstheoretischer Perspektive liege die damit einhergehende Krisenerfahrung nicht einfach in der Einschränkung eines gewohnten Alltags und ebenso wenig in der Erfahrung physisch unterbrochener Netzwerke der Zirkulation, sondern in der Infragestellung einer dynamischen Stabilisation der Gesellschaft, deren innere Struktur auf beständiges Wachstum und auf immer neue Innovationen ausgerichtet sei. Die Corona-Pandemie und die Aufgabe des Umgangs mit ihr stelle diesen gängigen Operationsmodus, so Rosa, nun in Frage. Vor futurologischen Prognosen und damit verbundenen Handlungsanweisungen seitens der Soziologie warnt Rosa jedoch, zu ungewiss seien die Entwicklungen nach der Corona-Krise (wann auch immer das seien mag). Wohl aber sieht er die Aufgabe der Soziologie darin, einer Diskussion über Werte und Operationsweisen der Gesellschaft den Weg zu bereiten.

Auch Andreas Reckwitz setzte in seinem Impulsvortrag bei der Krisendiagnose der spätmodernen Gesellschaft an. Er ordnet dabei jedoch die Erfahrungen mit der COVID19-Pandemie in eine Reihe von umfassenden Krisenerfahrungen ein, sowohl auf institutioneller als auch auf individueller Ebene. Was Rosa mit dem Begriff der Beschleunigung und als Wachstumszwang umschreibt, erscheint bei Reckwitz nun als Fortschrittsanspruch der Moderne. Kritisch wird es, wenn diese optimistische und optimierende Prätention auf real empfundene Verlusterfahrungen trifft, welche dem Glauben an Fortschritt widersprechen. In diesem Spannungsverhältnis zwischen Fortschrittsversprechen und Verlusterfahrung verortet Reckwitz die Gesellschaft der Spätmoderne. In seinem Vortrag skizziert er verschiedene Varianten des Erlebens von Verlust. Diese reichen von real erlittenen Verlusten, etwa der Kontrolle oder der Macht, über Verlustängste, welche die Sorge umfassen, den Status Quo nicht erhalten zu können, bis hin zu Verlusterwartungen, die Verlust nicht für einen gegenwärtigen Zustand, sondern für einen zukünftigen antizipieren. Erwartet werden keine progressiven Verbesserungen, sondern vielmehr Rückschläge und Niedergänge. Reckwitz unterstreicht dabei in seinem Vortrag, dass es bisher an dezidiert soziologischen (und nicht etwa psychologischen) Überlegungen zur Verlust-Thematik mangele. Damit zeigt er zugleich eine Lücke in bisherigen soziologischen Diagnosen auf und plädiert für die Entwicklung einer Soziologie des Verlustes, welche den Verlusterfahrungen einen Platz in den Gegenwartsdiagnosen der Gesellschaft einräumt und für sie eine gesellschaftstheoretische Sprache entwickelt.

Während in Rosas und Reckwitz’ Impulsen mit der Konzentration auf Ent- und Beschleunigung bzw. auf Fortschritt entschieden zeitliche Kategorien bedacht wurden, fokussierte Martina Löw in ihrem Beitrag räumliche Analysen. Vor dem Hintergrund der Theorie zur Re-Figuration von Räumen beschrieb sie die Spannungen, die sich zwischen verschiedenen, zugleich relevanten Raumformen auftun. Diese umfassen den territorialen Raum, wie er uns von Nationalstaaten her bekannt ist, aber auch Netzwerk- und Bahnenräume, wie sie etwa in global-verbindenden Verkehrsrouten in Erscheinung treten, sowie Orte. Die Corona-Pandemie ist hier nicht der Ausgangspunkt einer räumlich-fokussierten Gesellschaftsdiagnose, sondern erscheint in diesem Kontext als ein Beispiel, an dem und durch das sich verschiedene Raumformen und die Spannungen zwischen ihnen ausdrücken. So wird auch hier der zum Erliegen gekommene Flugverkehr berücksichtigt und die Konzentration auf nationalstaatliche Lösungen hervorgehoben, welche die Welt gleichermaßen begrenzt erscheinen lassen. Auf der anderen Seite wird an die weltweite Ausbreitung des Virus die dichte, grenzüberschreitende Vernetzung der gegenwärtigen Gesellschaft ersichtlich. Dabei zeigt der Virus nicht nur sein globales Gesicht. Gerade zu Phasen des Lockdowns erfährt auch der nachbarschaftliche Raum eine neue Form der Aufmerksamkeit und Wahrnehmung. Die politischen Reaktionen und Entscheidungen legen zudem verschiedene räumliche Logiken offen, mit denen auf die Bedrohung durch die Pandemie reagiert wird: Etwa Schließung oder Zentralisierung. Löw veranschaulichte dies anhand der Gegenüberstellung europäischer und südkoreanischer Antworten auf die viralen Herausforderungen: Während Europa mit Grenzschließungen nach Außen und Einschränkung der Bewegungsfreiheit im Inneren reagierte, war die südkoreanische Regierung bemüht den öffentlichen Raum für Nicht-Infizierte zugänglich und von Beschränkungen frei zu halten. Südkorea setzte diesbezüglich frühzeitig und verstärkt auf eine technologisch-fundierte Herangehensweise. Anstatt einer Logik der Schließung, so könnte man sagen, folgte die südkoreanische Reaktion eher einer Logik der technologischen Nachverfolgung.

An dieser Gegenüberstellung zwischen der südkoreanischen und der europäischen, genau genommen, der deutschen Raumpolitik im Umgang mit dem Virus knüpfte sodann die gemeinsame Podiumsdiskussion an. So stellte Harmut Rosa etwa eine Verbindung zu den für ihn zentralen Begriffen der Verfügbarkeit bzw. der Unverfügbarkeit her. In der „Verfügbarmachung von immer mehr Welt“ – auch als „Weltreichweitenvergrößerung“ bezeichnet – sieht Rosa neben seinen primär zeitlich ausgerichteten Analysen der gegenwärtigen Gesellschaft durchaus auch einen räumlichen Aspekt. Gleichzeitig gebäre das stetige Bemühen um Verfügbarmachung neue Phänomene der Unverfügbarkeit. Als ein solches „Monster der Unverfügbarkeit“ versteht Rosa auch das COVID-19 Virus, welches wissenschaftlich bislang unerforscht und medizinisch sowie politisch kaum zu kontrollieren sei und sich so dem menschlichen Zugriff entziehe. Auch die verschiedenen raumpolitischen Antworten ordnet Rosa in das Spannungsfeld zwischen Verfügbarkeit und Unverfügbarkeit ein. In Rückbezug auf Löws Ausführungen regte er an, Europas Reaktion auf den Virus als Raumschrumpfung, also gewissermaßen als Weltreichweitenverkürzung zu verstehen und damit als Umkehrung des modernen Programms der Weltreichweitenvergrößerung. Die südkoreanische Antwort auf den Virus ließe sich indessen als Ausdehnung des modernen Programms der technologischen Reichweitenvergrößerung beschreiben. Martina Löw verwies an dieser Stelle jedoch auch darauf, dass eine Sensibilisierung des Verfügbarkeit-Programms für räumliche Aspekte sich nicht auf Ausdehnungs- oder Schrumpfungsparadigma beschränken sollte. Es ginge nicht nur um mehr oder weniger Raum, sondern auch um andere Räume. Anstatt (Un-)Verfügbarkeit auf die quantitative Zu- bzw. Abnahme des Zugangs zu Raum zu reduzieren, sei es vielmehr lohnenswert das Verhältnis qualitativ unterscheidbarer Raumformen und die daraus resultierenden Spannungen in den Blick zu nehmen.

Die Fokussierung auf einen einzigen Raumtypus war auch Gegenstand Hubert Knoblauchs Anmerkung aus dem Hörsaal-Publikum. So verwies er auf die Renationalisierungstendenzen und die Konzentration auf einzelne Nationalstaaten mit denen die Politik jeweils auf die Bedrohung durch den Virus reagierte. Zugleich machte er darauf aufmerksam, dass soziologische Diagnosen in die Gefahr liefen, nur den politisch geschaffenen Verhältnissen zu folgen und so selbst etwa jene Renationalisierungstendenzen zu wiederholen und zu verfestigen.

Hier wird die Schwierigkeit ersichtlich, Zeitdiagnosen nicht nur für einen Nationalstaat oder die westliche Gesellschaft zu erstellen, sondern umfassender anzulegen. Auf die Nachfrage von Silke Steets nach dem Umgang mit dieser Herausforderung im SFB 1265 betonte Martina Löw die Relevanz empirischer „Tiefenbohrungen“ an verschiedenen Orten der Welt, die nicht nur methodisch stets hinterfragt und kontrolliert werden müssen, sondern die auch eines starken internationalen Netzwerkes von Forschungskooperationen bedürfen.

Zum Abschluss der Veranstaltung nahm Andreas Reckwitz die Nachfragen aus dem YouTube-Onlinechat – souverän moderiert von Theresa Vollmer – zum Anlass, um ein Unbehagen an dem Begriff der Zeitdiagnose auszudrücken. Dieses rühre nicht nur daher, dass die Soziologie auf diesen Begriff kein Patent habe. Vielmehr betonte Reckwitz, der Soziologie müsse es primär um die Entwicklung einer Gesellschaftstheorie gehen. Zeitdiagnosen seien gewissermaßen nur die „Benutzeroberfläche“ einer solchen. Als verbindendes Element der Podiumsteilnehmer*innen sieht er daher auch weniger eine zugespitzte Zeitdiagnose – die potentiell politisch-geschaffenen Umständen bloß hinterherhinke – als vielmehr die Arbeit an einer Theorie der spätmodernen Gesellschaft.

Man kann diese Schlussbemerkung auch als Gelegenheit nehmen, um über die verwendeten Begrifflichkeiten des soziologischen Diskurses im Allgemeinen, aber auch dieser Veranstaltung im Besonderen nachzudenken. Begriffe wie Diagnose und Prognose, die bereits im Vortag von Séverine Marguin aufgegriffen und mit verschiedenen Auffassungen und Fragen hinsichtlich der Aufgabe der Soziologie als Wissenschaft in Verbindung gebracht wurden, legen bereits einen zeitlichen Zugang nahe. Während der letztere Begriff eine klar futuristische Ausrichtung aufweist, ließe sich Diagnose als die Aufzeichnung eines gegenwärtigen Zustandes verstehen – oder, um eine weitere, damit zusammenhängende Unterscheidung vom Vortag aufzugreifen: mal geht es stärker um das „Sollen“, mal ums „Sein“. Dass zwei der Impulse dieser zweiten Sonderveranstaltung einen zeitlichen Fokus aufwiesen, ist vor diesem Hintergrund wenig überraschend. Konzentriert man sich hingegen auf die ebenso im Titel aufgeführte „Um_Formung“, sensibilisiert dies für eine räumliche Perspektive. Zu Bedenken wäre auch, inwiefern im Begriff der Diagnose nicht immer auch eine therapeutische Semantik mitschwingt und ein entsprechender Anspruch an die Soziologie (als intervenierende Verbesserungsdisziplin, siehe eine Variante in Marguins Vortrag) dadurch bereits unterschwellig mitgetragen wird. Ob dies im Selbstverständnis der Soziologie wünschenswert ist, bleibt fraglich und wird vermutlich je nach Position unterschiedlich beantwortet werden. Das von Reckwitz angemerkte Begriffspaar „Gesellschaftstheorie“ und „Gesellschaftsanalyse“ erscheint vor diesem Hintergrund doch als eine attraktive Wahl – nicht zuletzt, weil dadurch auch die Hegemonialstellung der Zeit zu Gunsten einer größeren Neutralität in der Raum-Zeit-Metrik unterlaufen werden könnte.


[1] Anlässlich der Berlin Art Week 2020 sowie des 40. DGS-Kongresses ermöglichten es zwei Bildserien den Besucher*innen, An- und Einsichten des Projektes mit eigenen Augen zu betrachten. Wie die Vorträge der Wissenschaftler*innen des SFBs, so behandelte auch diese Bilderinstallation die Frage, wie verschiedene Räume miteinander in Bezug gesetzt werden. Mehr Infos unter: https://sfb1265.de/wp-content/uploads/PressemitteilungSFB_DGS.pdf.

[2] Die Videoaufzeichnung zur Veranstaltung finden Sie online (https://www.youtube.com/watch?v=Na9LIrXeSIU ). René Tuma und Ajit Singh (2020) haben zudem auf dem SozBlog der Deutschen Gesellschaft für Soziologie die Veranstaltung resümiert: „Zeitdiagnose ist die Benutzeroberfläche der Gesellschaftstheorie“, einzusehen auf https://blog.soziologie.de/2020/09/zeitdiagnose-ist-die-benutzeroberflaeche-der-gesellschaftstheorie/, zuletzt aufgerufen 24.09.2020 18:30