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„Polycontextural Spatial Arrangements“ – Eindrücke & Reflexionen der 2. Internationalen Tagung des SFB 1265

22. Mai 2020

Am 26./27.02.2020 fand die zweite Internationale Konferenz des SFBs unter dem Titel „Polycontextural Spatial Arrangements“ an der TU Berlin statt. Nina Meier reflektiert in ihrem Bericht die verschiedenen Perspektiven, die sich aus dem Zusammenspiel von Vorträgen, Publikumsfragen und Plenumsdiskussionen ergaben und arbeitet dabei eine Auswahl an Argumentationslinien und offener Fragen mit Blick auf das Thema der „Polykontexturalität“ heraus.

Zugegeben, der Begriff Polykontexturalität klingt etwas sperrig. Leicht geht er einem zumindest, im Deutschen wie im Englisch, nicht gerade über die Lippen. Die Teilnehmer*innen der zweiten Internationalen Konferenz des Sonderforschungsbereichs (hiernach SFB) 1265 Re-Figuration von Räumen, die am 26./ 27. Februar 2020 im Lichthof der TU Berlin stattfand, haben sich trotzdem an ihn herangewagt. Dabei wurde schon in der Eröffnungsrede der beiden Organisatoren, Jörg Stollmann und Gunter Weidenhaus, ersichtlich, dass Polykontexturalisierung nicht nur phonetisch eine Herausforderung darstellt. Vielmehr erweist sich auch das mit dem Begriff bezeichnete Konzept als reichlich abstrakt. In den zwei Konferenztagen näherten sich die Teilnehmer*innen anhand der Vorträge und Plenumsdiskussionen trotzdem einem gemeinsamen Verständnis. Die Beiträge stammten dabei aus so diversen Feldern wie der architektonischen Design- und Archivierungspraxis, der Soziologie, der Geographie, der Ethnografie, der Konsumenten- oder der Nachhaltigkeitsforschung. So wie Polykontexturalität auf die Gleichzeitigkeit mehrerer relevanter Referenzpunkte verweist, so wurden auch in den Vorträgen unterschiedliche Perspektiven und Schwerpunkte in Bezug auf das Tagungsthema ersichtlich. 

Der folgende Text reflektiert und bündelt die Beiträge und Diskussionen der Konferenz. Als solcher nimmt er nicht die Form einer chronologischen Nacherzählung der Vorträge  an, sondern arbeitet vielmehr einzelne Diskussionslinien heraus und organisiert sich entlang übergreifender Fragen, die während der Konferenz immer wieder auftauchten. Weitere Eindrücke und Stimmen finden sich in dem Videozusammenschnitt von Kurzinterviews mit Hubert Knoblauch, Joyce Nyairo, Shalini Randeria, Jörg Stollmann und Albena Yaneva. 

Es ist der Vielfalt der Zugänge und der Abstraktion der Thematik geschuldet, dass sich viele der Beiträge und der Kommentare aus dem Publikum zunächst darum bemühten, das Konzept greifbar zu machen und sich daher ganz grundsätzlich mit den Fragen auseinandersetzten: 

Was ist Polykontexturalität und wo begegnet sie uns? 

Die Beiträge von Gunter Weidenhaus und Uwe Schimank[1] skizzierten zur Beantwortung dieser Fragen die begriffsgeschichtliche Entwicklung der Polykontexturalität ausgehend von ihren Ursprüngen in der formalen Logik und ihrer Fruchtbarmachung für die Soziologie durch Niklas Luhmann. 

Letzterer bezeichnet mit dem Terminus einen spezifischen Beobachtungsstil, bei dem ein Beobachter die Beobachtungen anderer Beobachter beobachtet und dabei seine eigene Beobachtung als solche erfasst. Es handelt sich also, wie Schimank in seinem Beitrag betont, um einen Modus der Beobachtung zweiter Ordnung; aber um einen der erstens mit dem soeben erwähnten Plural der beobachteten Beobachtungen ernst macht und sich zweitens selbst als Beobachtung reflektiert. Es handelt sich folglich um eine Beobachtung zweiter Ordnung von mindestens mehr als einer Beobachtung erster Ordnung. Schimank brachte dies in seinem geplanten Vortrag auf die Formel einer „second-order observation of a multitude of first-order observations“. 

Die Pluralität möglicher Beobachtungen erster Ordnung ist damit Voraussetzung für Polykontexturalität, sie darf jedoch nicht mit dieser gleichgesetzt werden. Das erlaubt auch Rückschlüsse auf das Verhältnis von Polykontexturalität und Multiperspektivität – ein Punkt, der vor allem im Anschluss an Gunter Weidenhaus Vortrag “Call me Global – Spatial Constitutions of Middle Class Members in Kenya“ diskutiert wurde. Multiperspektivität alleine könnte sich auch auf der Ebene der Beobachtungen erster Ordnung abspielen; es gibt dann schlicht mehrere Perspektiven auf einen Beobachtungsgegenstand. Polykontexturalität in der systemtheoretischen Ausarbeitung ist jedoch nicht Multiperspektivität an sich, sondern die Beobachtung von Multiperspektivität und das Wissen um diese.[2] Die damit einhergehende Einsicht, dass auch immer andere Beobachtungen möglich sind, konfrontiert den Beobachter zweiter Ordnung damit, dass es sich auch bei seiner Beobachtung nur um eine mögliche unter anderen handelt, dass also auch sie kontingent ist und dass auch sie letztendlich einen blinden Fleck hat, der für ihn selbst unbeobachtbar bleibt.[3] Erst mit dieser Reflexion setzt ein konsequent polykontexturales Gesellschaftsverständnis ein.[4]

Diese systemtheoretische Sichtweise auf Polykontexturalität dient uns als Kontrastfolie für die von Hubert Knoblauch in seiner Keynote „Contexts, Contextures and the Polycontexturalization of Space“ dargelegte und am nachfolgenden Tag von Gunter Weidenhaus aufgegriffene Ausarbeitung im Rahmen der Re-Figuration von Räumen. Auch Polykontexturalität im Sinne des SFB 1265 setzt bei der Möglichkeit vielfältiger Bezüge an. Doch sie weicht insofern von der Luhmann’schen Konzeption ab, als dass die ihr zugrundeliegende Pluralität nicht auf immaterielle Beobachtungen beschränkt wird, sondern materielle Aspekte miteinbezieht. Im Gegensatz zu Luhmanns ausschließlich kognitivem Zugang zur Polykontexturalität, der für räumliche Analysen der Gesellschaft wenig geeignet scheint, ist diese im Umfeld der Re-Figuration stärker in der etymologischen Bedeutung des englischen Begriffes contexture als ‚interwoven structure, fabric` verwurzelt.[5] Mit dieser materiellen Setzung wird zugleich eine räumliche Konnotation impliziert. Eine Kontextur in der von Hubert Knoblauch vorgeschlagenen Denkart stellt einen Handlungszusammenhang dar, bei dem Körper, Sinne und Materialität über Medien, Infrastrukturen und Technologien (oder Objekte anderer Art) in einer räumlichen Anordnung verknüpft werden. Auf diese Art und Weise, so Knoblauch und Weidenhaus, werden Bedeutungen konstituiert, ohne diese dabei wie bei Luhmann zu dematerialisieren. Polykontexturalität meint dann, dass im Handlungsvollzug und in der Konstitution von Bedeutung mehrere dieser räumlichen Anordnungen zugleich wirksam werden. 

Was dies konkret bedeutet, lässt sich am besten empirisch zeigen. So sind Kontrollräume, wie sie Hubert Knoblauch in seinen Fallstudien vorstellte, zunächst als abgeschlossene Containerräume konzipiert. Die in ihnen zum Ausdruck kommende Grenzziehung zwischen einem internen Raum, aus welchem heraus kontrollierend gehandelt wird, und einem externen Raum, der kontrolliert wird, prägt den Handlungsvollzug im Center. Gleichzeitig erhält der externe Raum über die verschiedenen Informationssysteme Einzug in den Innenraum. So werden auch die Netzwerke, Zirkulations- und Bahnenräume der beobachteten Infrastruktur, deren Vorgänge protokolliert werden und in die zuweilen steuernd eingegriffen wird, für das kommunikative Handeln im Kontrollraum relevant.

© Arne Janz 

Ein anderes empirisches Beispiel für die Gleichzeitigkeit mehrerer räumlicher Bezüge stellte Johanna Hoerning in ihrem Vortrag „Overlapping Cities, Nations, Europes and Worlds in Housing and Asylum Politics“ vor. Sie zeigte auf, wie in den Strategien von NGOs die Beziehungen zwischen den Maßstabsebenen des Lokalen, des Regionalen, des Nationalen und des Globalen ausgehandelt werden. So bildet der nationale Rahmen in beiden Themenfeldern nach wie vor den dominanten Bezugspunkt. Zeitgleich sind Städte als lokale Verdichtungen zentraler Politikinstitutionen sowie das Engagement regionaler Akteure für die NGOs von Bedeutung. Daneben haben diese jedoch auch globale Machtstrukturen, wie das Spender-Empfängerverhältnis zwischen dem Globalen Norden und dem Globalen Süden, zu bedenken. In ihren Strategien überlappen sich daher, so Hoerning, verschiedene räumliche Prozesse der Globalisierung und Multipolarisierung aber auch der Nationalisierung und Lokalisierung. Gleichzeitig werden diese durch die Handlungsfelder der NGOs weiter vorangetrieben und produzieren so konkrete räumliche Effekte in der Wohn- und Asylpolitik. 

Die Frage nach globalen Machtstrukturen führt uns zu den Konferenzbeiträgen, die aus dem Umfeld der Postcolonial Studies stammten oder anderweitig die Länder des Globalen Südens in den Blick nahmen.

Die Beiträge von Rebecca Enobong Roberts und Joyce Nyairo gingen dem Verhältnis von kulturellem Wissen und Polykontexturalität nach. Während Roberts aus ihrer Arbeit in und mit Slum-Gemeinschaften berichtete und dabei aufzeigte, wie sich bereits die basale Unterscheidung zwischen Innen- und Außenräumen auf den Erfolg von Initiativen auswirkte, folgte Nyairo in ihrem Vortrag den Spuren der für die Musikrichtung des Reggaes idiomatischen Wendung „Nobody Can Stop Reggae“ durch verschiedene, zuweilen von der eigentlichen Musik losgelöste Kontexte. 

Neben diesen Rekonstruktionen der kulturellen Wissensbildung sowohl über Raum als auch durch spezifische räumliche Arrangements, konzentrierte sich das Interesse der Teilnehmer*innen aber vor allem auf die Frage, inwieweit die Multiperspektivität der Postcolonial Studies Polykontexturalität bereits impliziert. Am pointiertesten hat dies Shalini Randeria auf den Punkt gebracht, indem sie gleich zu Beginn ihres Vortrages hervorhob, dass dem gesamten Vokabular der Postcolonial Studies an und für sich eine Re-Figuration räumlicher Vorannahmen und Ideen zugrunde läge. Basierend auf zwei ethnografischen Studien in Bombay und Westindien arbeitete sie die verschiedenen Perspektiven sowohl von Bürger*innen und Aktivist*innen als auch von Institutionen der indischen Rechtsprechung und der Weltbank heraus, die aus der Mischung verschiedener rechtlicher Räume (indische und globale Jurisdiktion) entstehen. 

Sowohl in Anlehnung an die bereits erörterte Abgrenzung zwischen Multiperspektivität und Polykontexturalität als auch in Bezug auf die Konkretisierung letzterer im Rahmen der Re-Figuration von Räumen, müsste jedoch betont werden, dass die Pluralisierung von Sichtweisen alleine nicht ausreichen dürfte, um von Polykontexturalität im Sinne des SFBs 1265 zu sprechen. Es müssten vielmehr noch materielle Aspekte hinzutreten.[6]

Die Diskussionen darüber, ob den Postcolonial Studies Polykontexturalität stets inhärent ist, regten nicht nur dazu an, zu überlegen, inwieweit das Tagungsthema eigentlich ein Phänomen bezeichnet, welches deutlich älter ist als der Begriff selbst, sondern sie lenkten die Aufmerksamkeit der Teilnehmer*innen auch auf eine weitere, damit einhergehende Frage:

Was ist das spezifisch Neue an Polykontexturalität?

Dabei machten vor allem die Beiträge der Session zur Smartification – unterstützt durch die Keynote von Hubert Knoblauch am Vorabend – die Vermutung stark, bei dem Novum von Polykontexturalität könne es sich um Prozesse der Digitalisierung handeln. Der Beitrag von Etta Madete, der reich an empirischen Beispielen war und Polykontexturalität in den Kontext von Modernisierungsdebatten in Kenia stellte, hob dabei die Relevanz von bottom-up Initiativen in der Gestaltung des kenianischen Stadtbildes aber auch der ländlichen Gebiete hervor. Ein unmittelbar anschauliches Beispiel für die Einbindung digitaler Medien in das soziale Handeln sowie auf das räumliche Erleben bot der Vortrag von Alessandra Ponte. Per Videotelefonat schilderte Ponte die Ergebnisse eines experimentellen ‚research by design’ Projektes, welches die Einbindung von Künstlicher Intelligenz in grundlegenden Bereichen des Gesundheitswesens, der Erziehung oder der Mobilität auf ihre räumlichen und architektonischen Effekte in der kanadischen Provinz Quebec hin untersuchte.

Albena Yaneva, die am Freitagmorgen die zweite Keynote der Tagung zum Thema „Polycontexturalization and the Archiving of Design“ hielt, analysierte die architektonische Archivierungspraxis aus der Perspektive der Akteur-Netzwerk-Theorie. Sie veranschaulichte dabei nicht nur, dass Archive stets Schauplätze der Gesamtheit aller für die architektonische Praxis bedeutsamer Kontexte sind, sondern auch, dass der Prozess des Archivierens selbst zahlreiche Örtlichkeiten miteinander in Bezug setzt und durch die Logiken einer Vielzahl unterschiedlicher Akteure geprägt ist. Ausgehend von der Überlegung, welche Effekte die vermehrte Nutzung digitaler Technologien auf die architektonische Archivierungspraxis haben könnte, fragte sie darüber hinaus, ob es durch Digitalisierung sogar Prozesse der Hyper-Polykontexturalisierung geben könne. 

Aber auch gegenteilige Entwicklungen wurden während der Konferenz bedacht. So haben Julia Fülling und Linda Hering in ihrem Vortrag „Fresh Food, Materiality and (In)Visibility of Polycontexturalization“ am Beispiel der Banane aufgezeigt, wie sich die verschiedenen räumlichen Kontexte des Anbaus und der Logistik auf die Materialität der Frucht auswirken und so etwa ihre Größe, den Reifegrad und ihren Geschmack bestimmen. Am Ort des Verkaufes werden diese räumlichen Kontexte der Ware, ihre Polykontexturalität also, jedoch unterschiedlich repräsentiert. Während der Konsument zumeist über die Herkunft der Ware informiert wird, bleiben Hinweise zur Logistik weitgehend verborgen. Diese Selektivität der Informationen auf Warenverpackungen, die auch im Vortrag von Ulrich Ermann aufgegriffen wurde, gab den Teilnehmer*innen daher Anlass, über mögliche Prozesse der De-Polykontexturalisierung nachzudenken, die mit der Unkenntlichmachung bestimmter räumlich-materieller Bezüge einhergehen könnten. Auch die Präsentation von Samira Iran, die sich mit der Frage eines nachhaltigen Umgangs mit Mode befasste, griff den Aspekt des Informationsstandes über räumliche Bezüge auf.[7] In den anschließenden Diskussionen drehten sich die Rückfragen aus dem Publikum daher zumeist um die Überlegung, ob Polykontexturalität eigentlich das Bewusstsein über die verschiedenen, sie kennzeichnenden räumlichen Logiken voraussetzt

© Aaron Lang

Abschließend soll noch eine weitere Diskussionslinie angesprochen werden, die für ein tieferes Verständnis der Polykontexturalität zentral seien dürfte: 

Wie kommen die verschiedenen räumlichen Referenzen zusammen? Was passiert, wenn verschiedene räumliche Strukturen im Handlungsvollzug aufeinandertreffen? 

Im Grunde wird damit die Frage nach dem Verhältnis der verschiedenen Kontexturen zueinander sowie ihrer aller Relation zu der jeweiligen Handlung gestellt.  Diese Frage des Verhältnisses verschiedener Teile zu einem Ganzen kam im Laufe der Konferenz in Form unterschiedlicher Begrifflichkeiten immer wieder auf. 

Im Vergleich der Luhmann’schen und der re-figurierten Konzeption von Polykontexturalität wurde dies von Gunter Weidenhaus etwa in der Gegenüberstellung eines Bedeutungskonfliktes (in der systemtheoretischen Fassung) und einer Bedeutungsintegration (auf Seiten der Denkart des kommunikativen Konstruktivismus) adressiert. Auch der Vortrag von Séverine Marguin griff Fragen der Integration im Rahmen interdisziplinärer Wissensproduktion auf. Sie hob dabei hervor, dass Interdisziplinarität nur gelingen könne, wenn die unterschiedlichen Forschungsfelder die jeweils anderen Disziplinlogiken verständen und anerkennen. Anhand des SFBs 1265 ging sie dahingehend exemplarisch auf das Verhältnis von Soziologie und Design- bzw. Planungswissenschaften ein und diagnostizierte für diese eine „scientification of architecture“ bei gleichzeitiger „creativization of sociology“. Die – von ihr als Begegnung unterschiedlicher struktureller Logiken aufgefasste – Polykontexturalität scheint daher auf eine gegenseitige (wenn auch durchaus konflikthafte) Beeinflussung der einzelnen Logiken zu verweisen. Im Kontext von Randerias Beitrag wurde das gleiche Phänomen zwischen den Teilnehmer*innen sowohl unter dem Begriff der Hybridität, als auch der Fuzziness diskutiert.

© Aaron Lang

Dagegen betonte Jan Peter Voß in seinem Vortrag „Doing Politics at the Intersection of Regulatory, Issue and Knowledge Spaces“ die Desintegration und damit die Vervielfältigung relevanter Räume in Bezug auf das Themenfeld der Politik. Neben den territorial definierten „Regulatory Spaces“ werden gegenwärtig auch sogenannte „Issue Spaces“, in denen die relevanten Problemstellungen ausgehandelt werden, sowie „Knowledge Spaces“ für das politische Handeln relevant. Während „Regulatory Spaces“ das Wo politischer Handlung bestimmen, adressieren „Issue Spaces“ die Frage danach, was Gegenstand dieser Handlungen seien soll, derweil in „Knowledge Spaces“ das Wie, also die Umsetzung, der Handlungen thematisiert wird. Dabei wird das politische Handeln von allen drei Räumen bestimmt, ohne jedoch, dass diese eins zu eins ineinander aufgehen würden. 

Vermehrt wurde auf das Verhältnis der verschiedenen Kontexturen zueinander auch in der Begrifflichkeit sich überlappender und miteinander verwobener Schichten Bezug genommen. Deutlich wurde dies etwa im Vortrag von Dominik Bartmanski und Seonju Kim, die am Beispiel der südkoreanischen Smart City Songdo aufzeigten, wie aus der Kombination staatlich-öffentlicher und unternehmerisch-privater Handlungskompetenzen digitalisierte Lebensräume entstehen, die von einer Gleichzeitigkeit unterschiedlicher Bedeutungskonstruktionen und räumlicher Logiken geprägt sind. In einem einzelnen Wohnkomplex werden dabei durch den Einsatz digitaler Überwachungssysteme und verhältnismäßig großer Abstände zwischen den Gebäuden sowie der Abwesenheit abschließender Mauern gleichzeitig Effekte der Abgrenzung als auch der (teilweisen) Öffnung produziert. Dadurch entsteht ein neues Verhältnis zwischen privat-exklusiven und öffentlich-inklusiven Räumen und eine subtile Form sozialer Abgrenzung. Die digitalen wie physisch-materiellen Kontexturen bilden dabei einen gemeinsamen Lebensraum, ohne sich jedoch bis zur Unkenntlichkeit zu vermischen. Die beiden Vortragenden beschreiben Polykontexturalität daher auch mit den Begriffen einer „dynamic imbrication“. Letztere bezeichnet ein spezifisches Muster, das aus mehreren Überlagerungen besteht. Es dürfte etwa in Form überlappender Dachziegel oder als Schuppenmuster bei Tieren bekannt sein. Da „imbrication“ hier aber gezielt dynamisch gedacht wird, ließe sich die gewählte Begrifflichkeit im Deutschen vermutlich am treffendsten prozesshaft erfassen und etwa als Verflechtung übersetzen.  

In manchen der Beiträge scheinen sich also die verschiedenen Kontexturen zu verbinden und gegenseitig zu verändern, in anderen bleiben sie jedoch weiterhin voneinander unterscheidbar. Auf die Frage, wie die verschiedenen relevanten Raumlogiken der Polykontexturalität zusammenkommen, zeichneten sich im Laufe der Konferenz folglich zwei grundlegende Antwortmöglichkeiten ab: Die eine fasst das Verhältnis der verschiedenen Raumlogiken zueinander als Synthese. Polykontexturalität käme in diesem Falle einem Konglomerat gleich, bei dem sich die verschiedenen Kontexturen gegenseitig beeinflussen und sich wie eine Legierung vermischen. Die andere Antwort, wie sie zuletzt als „dynamic imbrication“ bezeichnet wurde, setzt hingegen beim Bild eines Musters oder Gewebes an, dessen einzelne Fäden zwar eine integrierte Gesamtheit bilden, aber als Einzelne noch zu erkennen und zu identifizieren sind. Dominik Bartmanski und Seonju Kim haben dies in ihrem Vortrag anhand des nachstehenden Gemäldes von Gertrude Goldschmidt eingängig veranschaulicht.

Tejedura 89/13, 1989, ©Gertrude Goldschmidt

Von einem Schreibtischstuhl aus betrachtet, erscheint es eindeutig, dass Prozesse der Polykontexturalisierung, um sich nicht selbst aufzulösen, sondern um als Polykontexturalität erhalten zu bleiben, die sie charakterisierende Vielfalt nicht zugunsten einer neuen, gemischten Einheit aufgeben dürfen. Letztendlich dürfte es sich hierbei jedoch auch um eine jeweils empirisch zu beantwortende Frage handeln. Denn die Frage, was passiert, wenn die verschiedenen, gleichzeitig relevanten Raumlogiken aufeinandertreffen, ist zugleich eine Frage danach, ob es sich bei Polykontexturalisierung um eine ausschließlich quantitative Erweiterung der räumlichen Bezüge einer Handlung handelt, oder ob aus bzw. in der Polykontexturalität auch qualitativ neuartige Raumkonstitutionen entstehen. Neben der Klärung dieser Fragen ging aus der Konferenz noch ein weiteres Desiderat hervor: Bisher erscheint Polykontexturalität in erster Linie als die Diagnose eines gegenwärtigen Zustandes. Spannend dürfte es darüber hinaus jedoch sein, das Konzept vertiefend zu operationalisieren und so zu versuchen, es auch als Analysewerkzeug fruchtbar zu machen. Es gibt hinsichtlich der Polykontexturalität für den SFB 1265 also noch genügend zu tun. 


1 Der Vortrag von Uwe Schimank musste leider krankheitsbedingt entfallen. Die Ausführungen zu seiner geplanten Präsentation beziehen sich daher auf die von ihm dankenswerterweise zur Verfügung gestellten Konferenzmaterialien.

[2] vgl. Luhmann, Niklas (1997): Die Gesellschaft der Gesellschaft, Bd. 2. Frankfurt a.M.: Suhrkamp Verlag, S.891f., S.1141.

[3] Auch der hier verfasste Text ist so gesehen nur eine weitere Beobachtung im Spiel rekursiver Beobachtungsverhältnisse. Er beobachtet, wie die verschiedenen Teilnehmer der Konferenz das Thema Polykontexturalität beobachten, und muss sich dabei dem ‚blinden Fleck’ in seiner eigenen Beobachtung bewusst sein (der Leser, als Beobachter dritter Ordnung, mag es ihm nachsehen).

[4] vgl. Kneer, Georg (2001): Reflexive Beobachtung zweiter Ordnung. Zur Modernisierung gesellschaftlicher Selbstbeschreibungen, in: Giegel, Hans-Joachim/Schimank, Uwe (Hrsg.): Beobachter der Moderne. Frankfurt a.M.: Suhrkamp Verlag, S. 301-332.

5 American Heritage Dictionary of the English Language, Fifth Edition
https://www.thefreedictionary.com/contexture

[6] Vgl. Knoblauch, Hubert /Löw, Martina (2020): The Re-Figuration of Spaces and Refigured Modernity – Concept and Diagnosis. Historical Social Research 45 (2), S.280. 

[7] Im Rahmen dieser Diskussionen ist die gesonderte Stellung des Visuellen anzumerken, die auch in anderen Beiträgen der Konferenz zur Geltung kam. Auch wenn dieser selbstverständlich nicht der einzige körperliche Sinn ist, der bei der Konstitution von Räumen eine Rolle spielt, so sind visuelle Bezüge im Rückblick über die einzelnen Beiträge hinweg doch auffällig dominant vertreten.