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„Physische Orte beeinflussen digitale Räume – und umgekehrt“

14. August 2023

„Mich beschäftigen die Eindrücke, die ich gerade aus meinem zweiten Feldaufenthalt in den USA mit zurückgebracht habe – und die so anders sind als die Eindrücke aus meinem ersten Feldaufenthalt in Deutschland. In der aktuellen Phase unseres Projekts untersuchen wir Protestbewegungen in umkämpften Räumen und ihre Social Media Kommunikation; dazu haben wir 2022 zuerst die Proteste im Braunkohleabbaugebiet Hambacher Forst erforscht, vor allem im Dorf Lützerath. Nun bin ich zusammen mit meiner Kollegin Zozan in die USA gereist, an jenen Ort, wo 2016 und 2017 die Proteste gegen die Dakota Access Pipeline stattfanden – eine Erdölpipeline, die unter anderem durch die Standing Rock Reservation führt. Dieses indigene Gebiet war damals Kristallisationspunkt für den Aktivismus der Native Americans, die sich dort für gerechtere Landnutzung, Umwelt- und Klimaschutz einsetzten.

Tatsächlich wurde aus unserer Reise eher eine Spurensuche. Beim Herumlaufen haben wir nur sehr wenige Überbleibsel der Bewegung entdeckt, die noch im Raum sichtbar waren, wie beispielsweise Protestschilder – ganz anders als in Lützerath, wo uns überall Graffiti und Banner entgegensprangen. Die Standing Rock Reservation ist ein extrem ruraler Ort, mit sehr wenig Infrastruktur und Einwohner:innen. Im Dorf Cannon Ball, wo damals das Protestcamp war, gibt es kaum Orte der öffentlichen Versammlung – zwar eine Schule und einen Kindergarten, aber keinen Laden und keine Kneipe. Ungefähr ein Drittel der Häuser steht leer, mit vernagelten Fenstern. Vermutlich sind die Menschen aber nicht allein deshalb weggezogen, weil die Pipeline trotz der Proteste in Betrieb genommen wurde, sondern wegen der fehlenden ökonomischen Perspektiven. Arbeitsplätze sind auf dem Land generell rar, und in manchen Native American Reservations verstärkt sich das noch.

Von den wenigen Leuten, mit denen es uns gelungen ist, ins Gespräch zu kommen, waren alle an den Protesten beteiligt. Und obwohl diese schon sieben Jahre her waren, triggerten unsere Fragen ganz konkrete Erinnerungen: wie die Stimmung im Camp war, wie diverseste Tribes aus den gesamten Staaten anreisten, um diesen Ort zu verteidigen. Anders als die materiellen Spuren sind diese Erinnerungen dort noch sehr präsent. Auf mich wirkte es so, als seien die damaligen Teilnehmer:innen rückblickend froh und auch ein bisschen stolz, diese Protestbewegung auf die Beine gestellt zu haben. Zwar ist sie in ihrem Ziel gescheitert, die Pipeline zu verhindern; aber sie hat etwas Größeres ausgelöst, das bis heute fortbesteht.

Das sehen wir vor allem daran, dass diese Form des Protests gegen Pipelines weiterlebt, sie wandert sozusagen durch Social Media und poppt anderswo wieder auf – etwa in Form der einschlägigen Hashtags. Damals postete die Protestbewegungen viele Beiträge mit den Hashtags #NoDAPL und #StopDAPL, wobei DAPL für Dakota Access Pipeline steht. Andere Bewegungen haben diese Schlagworte übernommen und entsprechend angepasst, um sich zu organisieren und ihre Mitglieder zu aktivieren, weil der Wiederkennungseffekt so groß ist.

In den Braunkohleabbaugebieten war es genauso: Dort formierte sich der Protest unter der mittlerweile berühmten Losung #HambiBleibt. Sowohl in Deutschland als auch in den USA hat sich also vor Ort ein Narrativ formiert, das dann von der Community per Hashtag in die digitalen Medien übertragen wurde, sich dort verbreitete und von anderen Bewegungen aufgegriffen wurde. Es ist relativ offensichtlich, dass die große nationale Aufmerksamkeit, die die Protestbewegungen im Hambacher Forst wie auch in der Standing Rock Reservation erzielten, auf ihre translokale Vernetzung über und in Social Media zurückzuführen ist.

Was ich daran besonders interessant finde, ist, wie dominant die realen Räume dadurch in den digitalen Medien sind. Proteste werden immer wieder an konkreten Orten aufgehängt und entwickeln sich dann in einer Art ,Upscaling‘ zu einer nationalen Bewegung von übergeordneter Bedeutung. Das macht es allerdings auch schwierig, zu bestimmen, wer da jetzt eigentlich verhandelt – und aus welcher Position heraus. Besonders gut sah man das an Lützerath: Viele der Aktivist:innen, die unter dem Hashtag #LütziBleibt Beiträge posteten, waren selbst noch nie in Lützerath. Trotzdem wollten sie der Welt erklären, wofür dieses Dorf steht und weshalb es nicht geräumt werden darf. Das war nicht unbedingt immer im Sinne aller Dorfbewohner:innen – gerade wenn Aktivist:innen in großer Zahl anreisten und den Ort im Zuge ihres Protestes kurzerhand besetzten. Die physischen Orte beeinflussen also nicht nur die digitalen Räume, sondern auch umgekehrt.

An mir selbst beobachte ich, dass ich viel stärker als andere Menschen auf Ortsreferenzen in Social Media achte, seit ich zu dem Thema forsche. Bei Twitter folge ich weiterhin dem Kern der Aktivist:innen aus Lützerath. Momentan ist die Protestbewegung auf der Suche nach einem neuen Ziel; es steht die Frage im Raum, ob man nun eher strategisch vorgehen und Infrastruktur wie die Landstraße hinter dem abgerissenen Lützerath blockieren oder doch lieber einen bedeutungsvolleren Ort für die nächste Besetzung wählen sollte. Ich verfolge das alles sehr aufmerksam und fiebere auch ein Stück weit mit, wie es weitergeht, aber ich verhalte mich bewusst sehr passiv; weder teile ich Beiträge, noch reagiere ich darauf. Ich möchte später nicht mit meinen eigenen Daten in meinem Forschungsmaterial auftauchen.“

Dr. Daniela Stoltenberg ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Publizistik- und Kommunikationswissenschaft der Freien Universität Berlin und Mitglied im Teilprojekt „Translokale Netzwerke II: Raumkonflikte und Klimagerechtigkeit in sozialen Medien“.

Céline Lauer ist Stadtanthropologin und Wissenschaftsredakteurin bei WELT/WELT am Sonntag. Im Juni 2023 war sie als Journalist in Residence zu Gast am SFB 1265.

Zum Weiterlesen:

Baran, Z. & Stoltenberg, D. (2023). Tracing the Emergent Field of Digital Environmental and Climate Activism Research: A Mixed-Methods Systematic Literature Review. Environmental Communication.