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Nur weil wir es tun müssen, heißt das nicht, dass es richtig ist: warum #stayathome nicht zu einem moralischen Imperativ und soziale Isolation nicht zu einer Gewöhnung werden sollte

6. Mai 2020

Talja Blokland, Daniela Krüger und Robert Vief untersuchen die derzeit unter Corona entstehenden Einschränkungen der Möglichkeiten soziale Unterstützung zu erhalten. Sie argumentieren, dass die politischen Maßnahmen zur Eindämmung des Virus die Art und Weise regulieren, wie wir miteinander in Kontakt treten und mit anderen Menschen kommunizieren. Auf der Grundlage repräsentativer Umfrageergebnisse aus vier verschiedenen Berliner Stadtvierteln zeigen sie, dass noch vor einem Jahr (1) die Mehrheit der Befragten drängenden Problemen mittels face-to-face Kommunikation begegnete – und zwar mehrheitlich außerhalb ihrer Wohnung; sowie, dass (2) die Reduzierung der Kommunikation auf den digitalen Austausch mit hohen Kosten verbunden ist und die Begegnung in persona nicht ersetzen kann.

Einleitung 

Die politischen Maßnahmen, die sicherstellen sollen, dass unser Gesundheitssystem unter COVID19 nicht zusammenbricht, haben die Art und Weise, wie wir unser Leben organisieren können, enorm verändert. Virologen*innen und Epidemiologen*innen empfehlen, sich von anderen Körpern zu distanzieren. Auch wenn dies heute „social distancing“, also „soziale“ Distanzierung genannt wird, beruht es auf einem Modell, in dem Körper numerisch bestimmt und Persönlichkeiten in gerundete Zahlen umgewandelt werden. Ein typisches Merkmal der Moderne. Politiker*innen verordnen uns den angemessenen Umgang mit allen außer unseren Partner*innen und Familienmitgliedern – wobei mit angenommener Selbstverständlichkeit mit Familie “Kernfamilie” oder “Haushaltsmitglieder” gemeint werden.

Mit der Schließung der meisten Institutionen ändert sich, wie und wo Menschen arbeiten, wenn sie es überhaupt noch tun, wie Kinder beschult werden, wie Menschen medizinische Versorgung suchen oder wie sie mit anderen in der Öffentlichkeit umgehen. Vor allem das Kontaktverbot und die Abstandsregeln nehmen dem sozialen Leben viel vom „Sozialen“ und zwangen Menschen, ihre Alltagsroutinen rasch zu ändern.

Zur Isolation gehört, wie Georg Simmel (1908:55)[1] schrieb, das „irgendwie vorgestellte[…] und dann erst verneinte[…] Dasein” der Gesellschaft. […] Der einsame Mensch ist nicht so charakterisiert, wie wenn er [oder sie] von jeher der [oder die] einzige Erdbewohner[*in] wäre; sondern auch seinen Zustand bestimmt die Vergesellschaftung, wenn auch die mit negativem Vorzeichen versehene.” Nun, da das Leben in der Gruppe im Allgemeinen verboten ist und wir der sozialen Isolation so nah wie möglich gekommen sind, was bleibt da noch von der Sozialität übrig, definiert als die Lebensrealitäten, die in und für das Miteinander (und, im Konflikt, gegeneinander) existieren? Und was geschieht mit den materiellen und nicht-materiellen Inhalten, die sich in und aus solchen Sozialitäten entwickeln, wenn sie plötzlich verschwinden?

Die Beziehungen, welche uns in die Isolation führen, sind diejenigen, die wir nun in den Raum der digitalen Medien verlegen müssen. Hier tauschen wir visuelle und verbale Botschaften aus – wir „kommunizieren“ in seiner basalsten Wörterbuchdefinition. Wir inszenieren Feste, Hochzeiten, Demonstrationen, aber auch medizinische und psychologische Beratungen per Telefon und Video-Chat. Wir tun so, als ob die Freuden der Liebe, die Wut über politische Ungerechtigkeiten oder der Schmerz von Krankheit und Leid nicht körperlich wären.

Wir tun so, als bräuchten wir nicht alle unsere Sinne, um sie zu teilen, als könnten wir sie irgendwie ohne nonverbale Kommunikation ausdrücken. Ein großer Teil unserer Kommunikation mit anderen beinhaltet gewisse Formen der Unterstützung im weitesten Sinne: Ich kann Dir eine Tasse Zucker leihen oder eine Schulter zum Anlehnen, ich kann Dir ein Ohr leihen und Deiner Geschichte mit voller Aufmerksamkeit zuhören, anstatt Dich nur zu hören, ich kann mit Dir meine Meinung zu dem politischen Thema teilen, das Dich so sehr beschäftigt, und Dich sehen lassen, dass ich sehe, wie sehr es Dich berührt. Und wir können ein Gespräch scherzend und neckend wie einen Schlagabtausch führen, um den Ruf und die Hierarchien in unserer Peer-Group an der Straßenecke festzulegen. Bei viel Kommunikation geht es also überhaupt nicht um Austausch und Information. Auch wenn der herrschende Diskurs fast den Eindruck erweckt, dass die kollektive Hinwendung zum Online-Austausch von sprechenden Köpfen in Bildschirmen bedeutet, dass wir gerade einen neuen Ort der Begegnung gefunden haben: Dies ist nicht der Fall. Und die meisten von uns spüren intuitiv, dass dies nicht der Fall ist. Warum also ist es so unbefriedigend, das Enkelkind über einen Messengerdienst anzurufen? Warum fühlen wir uns nach einem Facetime-Anruf, bei dem wir Liebe, Hass, Ärger oder eine andere Emotion teilen wollten, nicht unbedingt getröstet? Oder fühlen uns immer noch nicht besser gerüstet, um eine gute Entscheidung in einer wichtigen Angelegenheit zu treffen?

Es gibt viele Möglichkeiten, diese dringenden Fragen zu beantworten. Zwei Antworten, die wir in diesem Text präsentieren, betreffen die Anpassungen, die wir in der Art und Weise vornehmen mussten, wie wir Unterstützung in Fragen organisieren, die uns wichtig sind. Im vergangenen Jahr haben wir im Rahmen unseres Projekts „Die Welt in meiner Straße“ im Sonderforschungsbereich 1265 “ Re-Figuration von Räumen” eine breite Umfrage in vier Berliner Bezirken durchgeführt. Wir haben zunächst randomisiert Briefe an die Menschen in diesen Vierteln verschickt, in denen wir unser Projekt ankündigten, und anschließend 572 Erwachsene befragt. Dies geschah nach einem, wie Fachleute es nennen, nach einem Design der größtmöglich kontrastierenden Fälle.

Wir gingen in zwei Bezirke in der Innenstadt und zwei am Stadtrand, wir wählten einen Bezirk mit einem hohen sozioökonomischen Status und einen mit niedrigeren Status, jeweils einen im ehemaligen Osten und einen im Westen. Wir hatten also vier Viertel, die sich entlang dieser Achsen unterschieden. Sie variierten auch im Prozentsatz der Bewohner*innen, die als Migrant*innen klassifiziert werden. Wir nennen sie Borkum Rock (niedriger Status, Innenstadt, Westen), Coswig Gardens (hoher Status, Innenstadt, Osten), Apolda Springs (niedriger Status, Außenbezirk, Osten) und Dorsten Heights (hoher Status, Außenbezirk, Westen). Wir fragten unsere Interviewpartner*innen, mit welchen Herausforderungen sie im letzten Jahr konfrontiert waren, mit wem sie über diese sprachen, wo diese Gespräche stattfanden und ob sie sich im persönlichen Gespräch oder digital ausgetauscht haben.[2] Haben sie die Person getroffen, mit denen sie den Austausch als hilfreich empfanden? Und wenn sie telefonierten, gingen sie dabei spazieren – was seit dem Lockdown eine gängige Praxis zu sein scheint? Trafen sie sich an einem bestimmten Ort oder lümmelten sie auf ihrem Wohnzimmersofa? Kurz gesagt, wie haben sie kommuniziert, wo waren sie, als sie sich unterhielten, und wo war die unterstützende Person?

Warum wir unsere Häuser verlassen, um gesund zu bleiben

Zunächst einmal mag die Frage, warum sich die gegenwärtige Kommunikation für uns nicht so beruhigend anfühlt, mit unseren räumlichen Routinen aus der Zeit vor dem Lockdown zusammenhängen. Normalerweise bleiben wir nicht zu Hause, um Probleme zu lösen. Nur 35% unserer Gesprächspartner*innen waren ausschließlich zu Hause, wenn sie mit Leuten sprachen oder schrieben – die sie vielleicht dafür zu Besuch hatten. Die meisten Menschen nutzten andere Räume wie Parks, Restaurants, Kneipen, Cafés, Bars und andere „dritte Orte“, wie Oldenburg es nennt (1999)[3], oder die Wohnungen von Freunden, Familie oder Kolleg*innen. So müssen sich 65% nun, da genau diese Orte der Geselligkeit verboten wurden, nach anderen Möglichkeiten umsehen oder Wege um die Einschränkungen herum finden.

Menschen, die sich vor einem geschlossenen Restaurant treffen (Foto: Daniela Krüger) 

Die Mehrheit unserer Befragten war vor dem Lockdown in der Stadt oder sogar in der Welt unterwegs, und zwar nicht nur, weil Ausgehen eine Art Luxus oder zweckfreies Vergnügen in der Freizeit war, sondern auch, weil außerhalb ihres Zuhauses die Begegnungen stattfanden, die unterstützend waren. 85% derer, die ausgingen und dabei Unterstützung fanden, blieben innerhalb Berlins, 75% verließen dafür die eigene Nachbarschaft. Menschen mit niedrigem Einkommen und/oder Migrationshintergrund blieben am häufigsten in Berlin. Alle Orte all dieser Treffen außerhalb des eigenen Wohnortes wurden geokodiert. 65% aller Personen, die wir befragten (die sich bei Gesprächen außerhalb ihrer Wohnung aufhielten), trafen sich im Mittel (Median) 4,98 km von ihrem Wohnort entfernt und im Durchschnitt (arithmetisches Mittel) sogar 70 km entfernt.[4] Die Bewohner*innen der innerstädtischen Gebiete blieben viel näher an ihrem Wohnort (Median von 3,1 km für Coswig Gardens und 4,1 km für Borkum Rock) als die Bewohner*innen der Außenbezirke (6,9 km für Apolda Springs und 8,4 km für Dorsten Heights). Menschen mit mittlerem Einkommen waren zwar etwas mobiler als andere, aber weder ein niedriges oder hohes Einkommen noch das Bildungsniveau beeinflussten diese Entfernungen signifikant.

Unterstützung fanden Menschen in all diesen Fällen, wenn sie nicht zu Hause blieben, aber das bedeutet nicht, dass sie sich extra aufmachten, um gezielt Unterstützung zu suchen. Wenngleich unter den Bedingungen des Lockdown alle möglichen Initiativen auf digitalen Plattformen, in Chat-Gruppen, bei Ebay und durch Aushänge in den Fluren von Gebäuden oder an den schwarzen Brettern der Supermärkte für Nachbarschaftshilfe entstehen, wissen wir seit langem, dass wichtige Formen der Unterstützung als Nebenprodukt entstehen und nicht über eine Angebots- und Nachfrageplattform. In seiner Studie „Bowling Alone“ (auf Deutsch “Alleine Bowlen”), mit der Robert Putnam[5]Anfang der 2000er Jahre die Untersuchung des Sozialkapitals in die öffentlichen Debatten brachte, beklagte er das Verschwinden des Plauderns oder „Nicht-Gesprächs“, welches mit dem Ende von Bowlingspielen in Ligen, Versammlungen in Kirchen und Moscheen oder dem Herumhängen vor der Bodega an der Ecke einhergeht. Er wies darauf hin, dass Unterstützung oft das Nebenprodukt von etwas anderem sei. Man kann also davon ausgehen, dass die Menschen, mit denen wir gesprochen haben, weit reisen, um ihre Kontakte zu sehen, und nicht, weil sie vorhatten, Hilfe zu suchen. Viel wahrscheinlicher ist es, dass sie nur planten, sich mit ihnen zu treffen. Wer weiß: Vielleicht wollten sie sich ein Fußballspiel vom 1. FC Union anschauen und kamen mit einem Jobangebot zurück, ohne geplant zu haben, überhaupt eine bestimmte Person zu treffen. Kurz gesagt, die Lösung von Dilemmas, die Bewältigung von Ängsten und Frustrationen und andere Formen des emotionalen Managements sowie die Suche nach praktischen Lösungen für alltägliche Irritationen erfordern Kontakte außerhalb des Hauses. Um in dieser Hinsicht gesund zu bleiben, war es vor einem Jahr erforderlich, dass wir nicht zu Hause blieben.

Warum wir uns sehen, um gesund zu bleiben

Bedeutet die Tatsache, dass 65% nicht zu Hause geblieben sind, um sich zu treffen, dass sie sich von Angesicht zu Angesicht getroffen haben? Nicht unbedingt. Im Zeitalter von Internet und digitaler Kommunikation haben verschiedene Wissenschaftler*innen die Bedeutung von Raum und körperlicher Kopräsenz in Frage gestellt.[6] Einige haben gezeigt, dass verschiedene Kommunikationsmodi nebeneinander stehen. Wir können z.B. während wir mit der U-Bahn fahren mit einem entfernten Facebook-Kontakt in einer Chat-Gruppe Informationen über Wohnungen in Berlin austauschen, aber den emotionalen Stress der Wohnungssuche später einem Arbeitskollegen während der Kaffeepause anvertrauen (oder umgekehrt). In unserer Umfrage wollten wir also wissen, welche Art der Kommunikation die Menschen nutzen.

Die meisten Menschen trafen sich unabhängig davon, in welcher Nachbarschaft sie wohnten oder wie alt sie waren, persönlich. Rund 80 % kommunizierten von Angesicht zu Angesicht: Wenn Menschen ein Problem haben, das sie wirklich stört, verlassen sie sich nicht auf digitale Kommunikation, um dieses zu lösen. Nur 20 % haben sich technologischen Mitteln wie Telefon, Video-Chat oder Messenger-Programmen zugewandt. In diesen Fällen war das Telefon am wichtigsten: Nur eine kleine Zahl von 18,4% dieser ohnehin schon geringen 20%, welche technische Mittel nutzten, verwendete digitale Kommunikation über (Video-)Chats oder Textnachrichten. 

Junge Leute sind immer „am Telefon“ – lautet so nicht die öffentliche Wahrnehmung und eine häufige Beschwerde? Sie schauen sich vielleicht endlose Youtube-Videos an, scannen Instagram oder lesen News-Beiträge in Tweets – aber wenn sie Unterstützung für etwas organisieren, das ihnen wichtig ist, haben sie sich nicht wesentlich häufiger auf digitale Zusammenkünfte verlassen als ältere Menschen: Unsere Interviewpartner*innen unter 30 Jahren, die „Digital Natives“ oder “Digitale Generation”, wenden sich ebenfalls in etwa 76% der Fälle einer verkörperten Kommunikation mit dem ganzen Menschen zu, wenn sie über ihre Herausforderungen und Probleme sprechen. Kurz gesagt: Wenn wir Dilemmata lösen, Ängste und Frustrationen und andere Formen des Emotionsmanagements bewältigen und praktische Lösungen für alltägliche Irritationen finden wollen, dann brauchen wir vor allem Kontakte außerhalb unserer Wohnungen, mit denen wir uns persönlich treffen. Um in dieser Hinsicht gesund zu bleiben, mussten wir vor einem Jahr also andere Menschen persönlich treffen. Dieser “triftige Grund”, unsere Häuser zu verlassen, passt nicht in den Katalog des staatlich zugelassenen. Das, was heute als zweckloses Draußen-Sein definiert wird, das bloße Zusammentreffen mit anderen oder das teilweise gar nicht intendierte Plaudern, das Reden über nichts, bot Unterstützung.

Natürlich ist jedes Gespräch anders als das andere: Nicht jedes Teilen unserer Sorgen erzeugt Empathie, nicht jede Erwähnung eines materiellen Bedürfnisses führt zu einer praktischen Lösung. Es macht einen Unterschied, ob jemand zum Krankenhaus gefahren werden muss (was virtuell nicht möglich ist) oder ob sie/er über mögliche Behandlungen einer Krankheit oder eines gebrochenen Herzens sprechen möchte (was virtuell möglich sein kann). Wir haben die Interviewpartner*innen gefragt, ob sie ihren Austausch als hilfreich für die Lösung ihrer Probleme empfinden. Rund 51% antworteten, dass sie den persönlichen Austausch als „sehr hilfreich“ empfanden; weitere 40% bezeichneten ihn als „eher hilfreich“. Nur 10% hielten die Gespräche für „eher nicht“ oder „überhaupt nicht hilfreich“. Ähnlich fühlten sie sich bei Telefongesprächen. Die 18,4%, die Video-Chat oder andere digitale Mittel verwendet hatten, waren jedoch weniger positiv gestimmt: Für sie waren nur 37% dieser digitalen Begegnungen „sehr hilfreich“ und 49% „eher hilfreich“, wobei wiederum 10% als „eher nicht hilfreich“ eingestuft wurden. Die digitale Kommunikation war folglich insgesamt nicht so verbreitet, aber auch etwas weniger effektiv. Wenn wir die Art der Menschen, mit denen unsere Interviewpartner kommunizierten, näher untersuchen, stellen wir fest, dass sie kaum digital mit engen Bindungen wie Partnern kommunizierten – die Menschen, von denen sie sich jetzt nicht distanzieren mussten. Aber wenn sie es mussten, war das Gespräch ähnlich hilfreich wie ein nicht-digitales. Im Gegensatz dazu hatten vor allem Freund*innen Schwierigkeiten, sich digital zu unterstützen. Außerdem fanden wir nur eine sehr geringe Anzahl digitaler Kontakte zu professionellen Ansprechpartnern wie Lehrer*innen, Anwält*innen und Psychiater*innen, so dass sich schwerlich Aussagen treffen lassen, aber es sah nicht so aus, als seien diese Unterhaltungen besonders effektiv gewesen. Zwar gehen Freund*innen vielleicht noch gemeinsam mit dem Hund spazieren, aber gerade diese Berufsgruppen haben sich der digitalen Kommunikation zugewandt, mit noch ungewissen Auswirkungen. Kurz gesagt, wir sehen nicht nur einander, um gesund zu bleiben: wir sehen insbesondere manche anderen lieber „live“, um gesund zu bleiben. Unsere Daten deuten darauf hin, dass gerade die Menschen, von denen wir uns jetzt körperlich distanzieren sollen, diejenigen sind, mit denen digitale Kommunikation in der Vergangenheit weniger verbreitet und möglicherweise weniger effektiv war.

Fazit: digitale Kommunikation und das isolierte Individuum

Die körperliche Distanzierung, welche in unseren sozialen Netzwerken stattfindet, kann den Virus also eindämmen – das sind gute Nachrichten, aber sie sind mit gewissen Kosten verbunden, wie unsere Analysen zur Räumlichkeit, Digitalisierung und Nützlichkeit sozialer Gewohnheiten in Zeiten vor dem Lockdown vermuten lassen. 

Erstens waren einige Menschen bereits nach innen orientiert auf ihre eigenen Familien- und Haushaltsmitglieder. Sie können durch den Lockdown zwar vor gewaltige neue Herausforderungen gestellt werden, aber sie können auf Unterstützungsstrukturen zurückgreifen, wie sie es zuvor getan haben, insbesondere wenn sie die Definition dessen, wer Familie ist, in der Praxis über die reine Kernfamilie hinaus ausdehnen (und obwohl Anekdoten darauf hindeuten, müssten wir systematisch herausfinden, ob sie es tun). Die Orientierung nach innen kann auch Abhängigkeiten emotionaler Unterstützung im Haushalt überlasten und den Stress innerhalb des Haushalts erhöhen, der mit Außenstehenden kaum oder gar nicht geteilt werden kann.

Wenn uns der Staat nun rät, wir sollen uns an unsere Familien halten, war eine solche Orientierung nach innen nur für eine Minderheit unserer Stichprobe überhaupt eine regelmäßige Praxis. Wie oben gezeigt, befanden sich die meisten Menschen, wenn sie mit anderen über ihre Probleme sprachen oder ihnen schrieben, außerhalb ihres Hauses und nicht bei ihrer Familie. Das seltsam anmutende Wiederauftauchen des Wertes der Familie in Zeiten des Lockdown und die unkritische Art und Weise, in der dies geschieht, ist an sich schon einen Blog wert. Vorerst sei hier jedoch nur angemerkt, dass viele dieser Kontakte in Restaurants, Kneipen, Sportvereinen, Schulen und so weiter und in Wohnungen oder Häusern anderer Menschen stattfanden. Diese Menschen können sich nun offiziell nicht auf ihre gemeinsamen Strukturen der Unterstützung verlassen. Gegenwärtig haben sie also entweder neue Wege der digitalen Kommunikation gefunden (die, wie oben gezeigt, wahrscheinlich weniger befriedigend sind), sie haben neue Routinen gefunden (in den letzten Wochen haben wir beobachtet, dass manche z.B. mit einem Bier immer wieder über den Platz spazieren, anstatt in die Kneipe zu gehen), sie haben die Regeln ein wenig gedehnt (indem sie das Take-away-Bier in 150 cm Abstand mit ihren Peers auf dem Bürgersteig vor der geschlossenen Bar trinken), oder sie haben versteckte Wege gefunden, um weiter zusammen rumzuhängen (wie z.B. neue Orte zu finden, an denen man sich zum Gras rauchen oder Sex in abgelegeneren Grünanlagen treffen kann). Oder, und das ist eine empirische Frage (eine Frage, die wir nur beantworten könnten, wenn wir die Daten dafür hätten), sie leben vielleicht in Isolation: eine Unterbrechung jeglicher Geselligkeit.

Die Gewöhnung an das Leben in Gemeinschaft, schrieb Simmel (1950: 120)[7], kann der Isolation ihre Attraktivität nehmen. Die Gewöhnung an das Leben in Gemeinschaft, so fügen wir hinzu, schafft die Rahmenbedingungen, über die wir auf Ressourcen zugreifen, um gesund zu bleiben. Digitale Kommunikation ist keine Alternative. Digitale Kommunikation kann die persönliche Begegnung aus einer Reihe von Gründen nicht ersetzen. Die Forschung über digitale Medien und soziale Netzwerke hat die wachsenden Möglichkeiten der digitalen Vernetzung für das Lernen, die Problemlösung und die persönliche Interaktion betont, da die großen, locker gestrickten Kreise, die es online gibt, uns von den Beschränkungen eng gestrickter sozialer Gruppen befreien, wie das neueste Buch von Rainie and Wellman (“Networked”) zeigt. Die digitale Kommunikation, in die uns die politischen Entscheidungen der Abriegelung gebracht haben, ist jedoch nicht diese Art von Netzwerk: Sie ist vielmehr ein Wechsel von unseren persönlichen Verbindungen zu einer rein digitalen Existenz. Während Forscher*innen schon seit langem den zusätzlichen Nutzen der digitalen Medien für die bestehenden Face-to-Face-Beziehungen nachgewiesen haben, hat niemand in diesem Forschungsbereich jemals vorgeschlagen, sie komplett durch Online-Kontakte zu ersetzen.

Zusammenfassend lassen sich vier Gründe dafür nennen, warum digitale Kommunikation unsere Zusammentreffen in persona nicht ersetzen kann und warum die Gewöhnung daran ungleiche Auswirkungen auf die Art und Weise haben kann, wie wir in Zukunft Unterstützung finden (einige von ihnen ergeben sich direkt und andere eher indirekt aus unseren hier präsentierten Daten).

Am offensichtlichsten ist, dass all diese Überlegungen zunächst voraussetzen, dass alle Menschen über die digitalen Mittel verfügen, um all ihre sozialen Aktivitäten und täglichen Routinen in die digitale Sphäre zu verlagern. Nicht jede Person eines Haushalts verfügt über einen Laptop, die notwendige Soft- und Hardware sowie das Wissen, all die digitalen Möglichkeiten zu nutzen – ein Problem, das jetzt besonders bei den ausgeweiteten Hausaufgaben auftritt, die euphemistisch als „Homeschooling“ bezeichnet werden. Diese Mittel zur Nutzung der digitalen Sphäre sind innerhalb einer Stadt nicht gleichmäßig verteilt. Zweitens haben wir gelernt, dass face-to-face-Begegnungen hilfreicher sind als digitale Begegnungen. Die „Natur“ der persönlichen Interaktion, wie Goffman (1967)[8] argumentiert hat, umfasst mehr als nur den Austausch von Worten. Sprechen ist nur eine Art der Kommunikation. Der Gebrauch der Hände, die Bewegung und Körperhaltung, der Abstand zwischen zwei Personen während einer Begegnung oder die Verwendung von Gegenständen (z.B. bei der Interaktion in einem Kiosk oder Büro) beeinflussen die vermittelte Botschaft. Wenn man also derzeit das Gefühl hat, dass etwas fehlt, hat man Recht: Beiläufige Umarmungen oder liebevolle Berührungen haben eine Stärke und Bedeutung für das Wohlbefinden[9] der Menschen, die die digitale Kommunikation nicht erzeugt. Drittens geht die digitale Kommunikation im Allgemeinen davon aus, dass wir uns mit einer klaren Absicht an andere wenden, was wir von ihnen wollen und warum wir mit ihnen sprechen, oder dass die Unterstützung in einem System von Angebot und Nachfrage geplant ist, wie die Online-Netzwerke, die bei Politiker*innen auf große Begeisterung stoßen. Ein wichtiger Teil von Unterstützung entsteht jedoch nebenbei, während wir eigentlich etwas anderes tun vor allem mit anderen, denen wir nicht nahe stehen. Darüber hinaus erfordert der soziale Austausch über Telefon oder Video-Chat im Lockdown-Zustand Kontaktdaten. Wie die Wissenschaftler*innen gezeigt haben, planen Menschen, die das Haus verlassen, um ihr Kind vom Kindergarten abzuholen, mit der U-Bahn zu fahren oder zur Arbeit zu gehen, nicht, in diesen Räumen soziale Unterstützung zu erhalten, und sie haben auch nicht unbedingt die Telefonnummern oder Skype-Details der Person, mit der sie unterwegs sprechen. Auch hier „geschieht“ der Austausch von sozialer Unterstützung zwischen Menschen oft einfach als Nebenprodukt, wenn man etwas anderes tut – draußen, in einer Bar, einem Café oder einfach auf dem Spielplatz.[10]

Geschlossener Spielplatz in Berlin-Friedrichshain (Foto: Daniela Krüger)

Selbst wenn wir die Kontaktdaten haben, ist es schwieriger, diese Art sozialer Unterstützung unter Lockdown-Bedingungen zu erhalten. Jedes digitale Arbeitstreffen folgt zum Beispiel neuen Routinen: Kolleg*innen auf dem Bildschirm zu sehen, ermöglicht es nicht, sich auf der Goffman’schen (1959)[11] „Hinterbühne“ zu begegnen. Es gibt weder eine Kaffeemaschine noch einen Raucherbereich, in dem man einer Kollegin/ einem Kollegen in einer Pause ein persönliches Problem anvertrauen kann.

Einige etablierte Schriftsteller*innen in den Mainstream-Medien schwärmen von den positiven Aspekten, zu Hause bleiben zu müssen. Andere füllen ihre Instagram-Accounts mit Apfelkuchen und blühenden Gartenpflanzen. #stayathome machte die Idee des Zuhausebleibens zu einem moralischen Imperativ. Wir ignorieren für einen Moment, dass es für viele ein leerer Imperativ ist, da sie hinausgehen müssen, um Geld zu verdienen, und argumentieren, dass die Idee des Zuhausebleibens als moralischer Imperativ, der heute als das anerkannt wird, was gute Menschen in Zeiten des Lockdown tun, ein gefährliches Element der Gewöhnung in sich trägt. Jetzt, da es situationsbedingt normal ist, weil wir keine andere Wahl haben, müssen wir vermeiden, es zu etwas zu machen, das auch normativ normal ist. Dass die ruhige Stadt ein Luxus ist, den einige von uns vielleicht von hinter ihrem Laptop aus genießen, wie auch den Blick aus dem Fenster ihrer geräumigen Altbauwohnung, mag so sein. Für andere sind die Kosten dafür hoch, und für diejenigen, die vor den größten Herausforderungen stehen, waren die Wege, auf Ressourcen zur Lösung dieser Probleme zuzugreifen, noch nie so begrenzt wie heute. Als Soziolog*innen, die sich mit sozialer Unterstützung, sozialen Netzwerken und Lokalität und Gemeinschaft beschäftigen, wissen wir, dass es unerlässlich ist, zu Hause zu bleiben, um die Ausbreitung des Virus zu verlangsamen, um den Zusammenbruch des Gesundheitssystems zu verhindern. Und dennoch müssen wir vermeiden, dass es zu einer neuen Gewohnheit wird, und wir tun dies vor allem dadurch, dass wir uns immer wieder gegenseitig erinnern, dass es noch lange nicht richtig ist, nur weil wir es tun müssen.

Hinweis: Übersetzt aus dem Englischen


[1] Georg Simmel: Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung. Duncker & Humblot, Berlin 1908 (1. Auflage); Zugriff online: https://socio.ch/sim/soziologie/index.htm (26.05.2020).

[2] Auf diese Weise verfolgten wir die Praktiken der Unterstützung, anstatt zu fragen, ob die Menschen bestimmte vordefinierte (und als wichtig vorangenommene) Formen der Unterstützung erhalten hatten, wie es bei anderen Untersuchungen sonst üblich ist.

[3] Oldenburg, R. 1999(1989). The great good place. Cafés, coffee shops, bookstores, bars, hair salons, and other hangouts at the heart of a community. 3rd ed. Philadelphia: Da Capo Press.

[4] Der starke Unterschied zwischen Median und arithmetischem Mittel lässt sich durch die (eher geringe) Häufigkeit von Befragten erklären, die sich mit anderen in anderen Städten innerhalb Deutschlands oder sogar der Welt treffen – den Mittelwert aber deshalb zu großen Entfernungen hin stark verzerren.

[5] Putnam, R. D. 2002. Bowling alone: The collapse and revival of American community. New York: Simon & Schuster Paperbacks.

[6] Zur Diskussion über die Rolle des Raumes für die Bildung sozialer Beziehungen siehe: Small, M. L., and Adler, L. 2019. „The role of space in the formation of social ties.“ Annual Review of Sociology 45 (1):111-132.

[7] Vergleiche: Simmel, G. 1950. On the Significance of numbers for social Life. In: K.H. Wolff (1951). The Sociology of Georg Simmel, New York: Free Press, pp.87-100.

[8] Goffman, E. 1967. Interaction Ritual: Essays on Face-to-Face Behavior. New York: Doubleday Anchor.

[9] Cohen, S., Janicki-Deverts, D., Turner, R. B., & Doyle, W. J. 2015. „Does Hugging Provide Stress-Buffering Social Support? A Study of Susceptibility to Upper Respiratory Infection and Illness.“ Psychological Science, 26(2):135-47.

[10] Siehe u.a.: Small, M. 2010. Unanticipated gains origins of network inequality in everyday life. Oxford, New York: Oxford University Press.

Small, M. 2017. Someone to talk to. New York: Oxford University Press;

Arbter, R. 2016. Social ties and the moral orientation of sharing. In T. Blokland, C. Giustozzi, D. Krüger, & H. Schilling (Eds.), Creating the unequal city (pp. 137–156). Aldershot, UK: Ashgate.

[11] Goffman, E. 1959. The presentation of self in everyday life, 2nd edn. Harmondsworth: Penguin.


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