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„Für mich hat diese Smartifizierung dystopische Momente“

10. Juli 2023

„Ich schreibe gerade an einem Buch über die Refiguration des Sozialen. Hinter dem Begriff ,Refiguration‘ verbirgt sich das Schlüsselkonzept unseres Sonderforschungsbereichs (SFB): Er beschreibt, wie gleichzeitige, gegenläufige Prozesse auf räumlicher Ebene zu Spannungen und Konflikten führen, wodurch sich Raum und Gesellschaft verändern und neu ordnen. In meinem Buch versuche ich, über die Räume auf diese Veränderung des Sozialen zu schauen und so den intensiven gesellschaftlichen Wandel der vergangenen Jahrzehnte zu erfassen.

Ein Beispiel für Refiguration aus unserer empirischen Arbeit am SFB ist die Smart City Songdo in Südkorea. Das Land hat in den vergangenen 50 Jahren eine komprimierte Modernisierung durchlaufen und sich in rasanter Geschwindigkeit von einer agrarischen hin zu einer urbanen, hochtechnologisierten Gesellschaft entwickelt. Die Digitalisierung stellt uns weltweit vor gemeinsame Herausforderungen; alle sind damit konfrontiert. An Songdo zeigt sich bereits, wie tiefgreifend die Digitalisierung städtische Räume und soziale Gefüge beeinflusst und so den Alltag der Menschen verändern kann – nicht immer zum Positiven. So wird die soziale Kontrolle zum Beispiel deutlich stärker.

Smart City Konzepte richten sich in der Regel an die obere Mittelschicht. Das ist auch in Songdo der Fall. Die Planung ist zudem ausschließlich auf heterosexuelle Kleinfamilien ausgerichtet. Homosexuelle Paare finden in den komplexen Finanzierungssystemen für ein Apartment in Korea wenig Unterstützung. Und im Alltag kann es passieren, dass sie versuchen, in den Bildern, die die Videokameras festhalten, nicht als Paar in Erscheinung zu treten, weil sie Diskriminierung fürchten.

Songdo ist ein neu geschaffener Ort auf Polderland, dort sollte eine internationale Community Raum finden. Tatsächlich entstanden ist ein recht homogener und wenig urbaner Ort. Für mich hat diese Smartifizierung dystopische Momente. Ich beobachte an mir, dass ich seit unserer Feldforschung in Südkorea anders durch Städte laufe, meine Aufmerksamkeit hat sich verschoben: Wo hängen Überwachungskameras? Der öffentliche Raum in Songdo kam mir zu leer vor, und der private Raum zu überwacht. Smartifizierung per se macht die Städte nicht attraktiver.

Neue Technologien sind für viele faszinierend, weil sie ein effizienteres Leben versprechen, in dem sich möglichst viel Energie und Zeit sparen lässt; etwa, indem man sich seinen Einkauf liefern lässt, anstatt an der Supermarktkasse anzustehen. Viele Bewohner*innen in Songdo heben positiv hervor, dass sie schon in der Wohnung den Aufzug rufen können und nicht im Flur warten müssen. Doch dadurch gehen ganz viele spontane Kontakte und überraschende Begegnungen verloren – gerade auch die unangenehmen, bei denen man gezwungen ist, sich mit dem Fremden, Anderen auseinanderzusetzen. Wenn man nie mehr vor dem Aufzug warten muss, schwinden die Chancen für solche Aufeinandertreffen rapide. Das finde ich bedenklich.

Andererseits zeigt unsere Forschung auch, wie viele Technologien gar nicht funktionieren. Sei es, weil sie beim Einzug der ersten Familien bereits veraltet waren oder weil Vorrichtungen für Videokonferenzen der Hausgemeinschaft von dieser einfach nicht angenommen wurden.

Die Digitalisierung verändert aber nicht nur die sozialen Beziehungen, sondern auch, wie Menschen Raum wahrnehmen. Wir haben das Gefühl verloren, in einem einheitlichen, uns umschließenden Behältnis zu sein. Das ist erst einmal nicht schlimm, aber Orientierung, Erinnerung und Platzierungen wandeln sich. Der Raum setzt sich nun für alle spürbar aus unterschiedlichen Strukturen zusammen, die wir im SFB in Raumfiguren zusammenfassen. Der territoriale Raum oder Behälterraum ist nur eine Figur darunter. In vielen Alltagssituationen spielt der virtuelle Raum eine immer stärkere Rolle, er legt sich bisweilen wie eine Schicht oder neue Ebene über den physischen Raum. Dennoch glaube ich nicht, dass sich beide in naher Zukunft bis zur Unkenntlichkeit vermischen werden, wie manche es mit Blick auf Augmented oder Virtual Reality prophezeien. Von solch einer Hybridisierung sind wir noch weit entfernt.“

Martina Löw ist Professorin für Architektur- und Planungssoziologie an der Technischen Universität Berlin und Sprecherin des Sonderforschungsbereichs 1265 „Re-Figuration von Räumen“.

Céline Lauer ist Stadtanthropologin und Wissenschaftsredakteurin bei WELT/WELT am Sonntag. Im Juni 2023 war sie als Journalist in Residence zu Gast am SFB 1265.

Zum Weiterlesen:

Bartmanski, D., Kim, S., Löw, M., Pape, T., & Stollmann, J. (2022). Fabrication of space: The design of everyday life in South Korean Songdo. Urban Studies.