„Pokémon Go könnte eine echte Chance sein, das Leben in öffentliche Räume zurückzuholen“
„Mich treiben gerade zwei Themen um, die beide mit lokativen Medien zu tun haben – also mit mobilen Apps, die auf die Standortfunktionen von Smartphones zugreifen. Eine davon ist Pokémon Go, eine App, mit der Nutzer:innen im physischen Raum virtuelle Fantasiewesen fangen können. In der ersten Phase unseres Teilprojekts haben wir in Deutschland und Japan erforscht, wie dieses Spiel den Alltag im öffentlichen Stadtraum prägt und verändert. Dabei hielten wir es eigentlich immer für selbstverständlich, dass jeder Mensch Zugang dazu hat.
Nun aber habe ich mit der Medienwissenschaftlerin Tanja Bosch von der Universität Kapstadt darüber gesprochen, die gerade bei uns am SFB zu Gast ist – und sie erklärte mir, dass es in Südafrika geradezu Luxus sei, Pokémon Go spielen zu können. Denn dafür benötigt man schnelles Internet und ein hohes Datenvolumen, und das können sich nur Leute leisten, die Geld investieren. Viele Menschen dort haben nämlich gar keine Mobilfunkverträge, sondern gehen über kostenloses WLAN online und haben deshalb nur punktuell Zugang zum Netz. Sie können sich im Raum also oft gar nicht dorthin bewegen, wo die Pokémons zu finden sind.
Tatsächlich gibt es eine kleine Gruppe südafrikanischer Aktivist:innen, die zwar begeisterte Pokémon-Spieler:innen sind, sich bei dem US-amerikanischen Entwicklerstudio Niantic aber darüber beschweren, dass man dort gar nicht auf die Probleme des Globalen Südens eingeht. Diese Einschränkungen hatte ich bis zu meinem Gespräch mit Tanja überhaupt nicht auf dem Schirm. Seither denke ich darüber nach, wie in Kapstadt eigentlich Pokémon Go gespielt wird – und von wem. Besteht die Community dort nur am Ende aus Reichen? Oder haben sich die Spieler:innen so organisiert, dass sie genau wissen, wo sich die WLAN-Hotspots befinden, in die sie sich einloggen können? Ich fände es total spannend, mehr darüber herauszufinden.
Das andere Thema, das mich gerade umtreibt, ist die Frage, was Dating-Apps – die auch zu den lokativen Medien zählen – mit der queeren Kultur machen. Seit langem wird befürchtet, dass sie die urbanen Treffpunkte und Szene-Viertel der LGBTIQ+-Community zerstören, weil diese sich nun per App jederzeit und überall connecten kann. Es stimmt ja auch, dass zum Beispiel Grindr das Sexleben vieler schwuler, bi- und transsexueller Männer verändert hat. Den Berliner Nollendorfkiez mit seinen Gay-Bars gibt es aber nach wie vor. Trotzdem sagen alle, die man vor Ort fragt, dass die Apps etwas verändert haben – die Frage ist nur, was.
In unserer Forschung sind uns verschiedene Phänomene aufgefallen: Etwa, dass Leute noch in queere Bars gehen, dort dann aber vor ihrem Smartphone hängen. Oder dass sich App-Nutzer:innen sich zum Date auf keinen Fall im Nollendorfkiez treffen wollen, weil der wie ein Dorf sei, in dem sich alle kennen und viel getratscht werde. Zugleich wird befürchtet, dass solche Szene-Orte sich auflösen könnten – und dass damit die politische Sichtbarkeit der Community verloren geht. Auch scheint es vielen wichtig zu sein, einen Ort zu haben, wo sie sich in der Mehrheit fühlen. Nicht, weil es Vorteile bringt, sondern weil es ihnen ein gewisses Lebensgefühl vermittelt. Das alles in unserer Analyse auf den Punkt zu bringen, ist schwierig.
Fest steht: Lokative Medien verändern, wie Menschen insbesondere den öffentlichen Raum wahrnehmen und nutzen. An Pokémon Go hat man gesehen, dass das durchaus schiefgehen kann: Zu Beginn kam es weltweit zu Unfällen, weil Spieler:innen zum Beispiel blindlings auf die Straße rannten – da prallten im wörtlichen Sinne zwei Welten aufeinander, die analoge und die virtuelle. Recht schnell sind aber auf beiden Seiten Gewöhnungseffekte eingetreten: Die Nutzer:innen haben gelernt, sich in ihrem Verhalten anzupassen und unauffälliger zu spielen, und die restliche Öffentlichkeit hinterfragt nicht mehr, wenn wie in Japan auf einem Stadtplatz reihenweise Menschen nebeneinander sitzen und auf ihre Bildschirme starren. Dort geht es sogar so weit, dass Pokémon Go spielen auf Friedhöfen und in Heiligtümern sozial akzeptiert wird – in Deutschland geht das gar nicht. Das liegt aber sicher auch daran, dass die japanische Gesellschaft uns digital weit voraus und zudem stark darauf bedacht ist, Konflikte im öffentlichen Raum einzuebnen; höfliche Gleichgültigkeit ist dort oberstes Gebot.
Gerade trotz dieser Spannungen und Konflikte ist es mir wichtig, dass die virtuelle Realität lokativer Medien nicht nur als Bedrohung für den physischen Raum wahrgenommen wird. Für die queere Kultur etwa sind die einschlägigen Szene-Viertel und Treffpunkte besondere Orte, die mit Bedeutung und Identität aufgeladen sind. Apps wie die Dating-Portale, die wir untersuchen, können Menschen diesen Stellenwert vergegenwärtigen – und ihn dadurch bestätigen. Eine App wie Pokémon Go kann Räumen sogar eine ganz neue Bedeutung verleihen; etwa, wenn ein Friedhof plötzlich zum Treffpunkt der Community wird. Pokémon-Go-Nutzer:innen bilden eine große Gemeinschaft: Man ist befreundet, hilft einander beim Umzug oder sogar bei Geldsorgen. Ein Nutzer sagte mal, das Spiel sei wie ein Verein oder eine Kirchengemeinde: ein Ort, an dem man ganz viele Leute trifft, mit denen man sonst nie Kontakt hätte, denen man sich aber durch die gemeinsame Aktivität verbunden fühlt. In Zeiten, in denen fast überall das Sterben der deutschen Innenstädte beklagt wird, könnte Pokémon Go damit eine echte Chance sein, das Leben in öffentliche Räume zurückzuholen.“
Dr. Eric Lettkemann ist wissenschaftlicher Mitarbeiter im SFB-Teilprojekt „Lokative Medien II: Neue Raumwirklichkeiten zwischen Konflikt und Koexistenz„.
Céline Lauer ist Stadtanthropologin und Wissenschaftsredakteurin bei WELT/WELT am Sonntag. Im Juni 2023 war sie als Journalist in Residence zu Gast am SFB 1265.
Zum Weiterlesen:
Lettkemann, Eric (2021): Lokative Medien und die Wahrnehmung hybrider Räume. In: Hoerning, Johanna/Misselwitz, Philipp (Hrsg.), Räume in Veränderung – Ein visuelles Lese-buch. Ein- und Ausblicke des interdisziplinären Forschungsverbundes zur Refiguration von Räumen. Berlin: Jovis, S. 190-200. DOI: 10.1515/9783868599930-015