Learning to Dance: Social Distancing und die Refiguration der Interaktionsordnung
Die Corona-Krise stellt nicht nur eine gesellschaftliche Herausforderung dar; sie ist auch eine soziologische Herausforderung: Was geschieht gerade in und mit der Gesellschaft? Auch wenn derzeit Expertisen aus Medizin und Epidemiologie gefragt sind, so müssen wir uns fragen, was die Corona-Krise soziologisch bedeutet, und damit, was wir zu ihrer Bewältigung beitragen können. Nachdem Martina Löw und ich im ersten Blogbeitrag festgestellt haben, wie sehr das Corona-Problem im Raum stattfindet, deutliche Merkmale der Refiguration aufweist und in einer Not-Ordnung Gesellschaft weitgehend auf zu regierende Bevölkerung reduziert, möchte ich hier Überlegungen über die Refiguration der Interaktionsordnung zur Diskussion stellen, also jenes Nahbereichs, in dem wir einander wie auch dem Risiko der Infektion begegnen. Die Schließung von weiten Teilen des öffentlichen Raums dient, wie ich (1) argumentieren möchte, zur Kommunikation der „Notsituation“; aus diesem Grund wird der öffentliche Raum zur symbolischen Kommunikation der Not-Ordnung. Weil gerade Corona nicht nur den Sinn der Interaktion betrifft, sondern material ist und das Risiko körperlicher Wirkungen zeitigt, beobachten wir eine vorläufige, möglicherweise länger anhaltende Umstellung der Interaktionsordnung, zu deren Untersuchung und Gestaltung die sozialwissenschaftliche Raumforschung beitragen könnte und sollte. [i]
Einleitung
Die Ausbreitung des Coronavirus SARS-CoV-2 bzw. der Corona-Pandemie nimmt besonders und besondere räumlich markante Züge an, die, wie wir im ersten Blogbeitrag ausgeführt haben, als eine Zuspitzung der Refiguration des Raums erscheinen (Knoblauch/ Löw 2020): Während die Epidemie sich global über alle Grenzen hinweg ausweitet, werden die Territorien auf eine radikale Weise geschlossen. Und während wir auf der einen Seite unsere privaten und beruflichen Sozialbeziehungen auf digitale Medienkommunikation umzustellen versuchen, finden wir uns durch die sich festigenden Vorschriften unserer Regierungen weitgehend auf die Wohnräume unserer Haushalte, begehbare Nahräume und die minimalsten Sozialbeziehungen begrenzt, ohne sie jedoch ganz zu schließen. In den verbleibenden Räumen bilden sich neue Anforderungen an die Interaktion aus, die vermutlich auch über die Zeit der „hammerharten“ Kontakt- und Ausgangssperre hinaus für eine längere Phase des Übergangs bzw. „Tanzes“ (Pueyo 2020) erhalten bleiben und die Interaktionen so umformen werden, dass wir sie neu erlernen, also Tanzen lernen müssen.
Die im privaten Wohnraum verorteten sozialen Beziehungen bilden plötzlich die Grundeinheit des Sozialen, die das (mehr oder weniger freiwillige) „Bleibt-zuhause“ in eine beinahe geschlossene „interaction unit“ verwandelt, wie Goffman es nennt. In Regionen, in denen eine Ausganssperre gilt, ähnelt die Situation dem, was Goffman als „totale soziale Institution“ (Klöster, Gefängnisse, psychiatrische Anstalten) bezeichnet. Beachtenswert ist, dass darin die situativen inneren Ordnungen auf Dauer gestellt werden können. Diese Raumanordnung verändert bestehende Beziehungsgefüge, reduziert das komplexe, an mannigfaltige Kontexte ausgerichtete Rollenset und kann so zu sozialen Konflikten und (häuslicher) Gewalt führen. Durch das Ausfallen des öffentlichen Raumes und dessen Entfaltungsmöglichkeiten ändern sich die Lebenswelten und pendeln zwischen (mehr oder weniger angemessenem) körperlich- intimem Nahraum und mediatisiertem Fernraum, der durch Internet, aber auch durch Bücher, Fernsehen oder andere Kommunikationsmedien gefüllt wird.
Ebenso dramatisch zeigt sich die zugespitzte Refiguration im „öffentlichen Raum“, der keineswegs vollständig gesperrt ist. Neben Zugängen zu Supermärkten, Bäckereien oder Tankstellen werden öffentliche Verkehrsmittel noch genutzt, Lieferdienste klingeln an den Türen, Wege, Straßen und Plätze werden noch begangen. Im Unterschied zu (auch Bundes-)Ländern, in denen ein erzwungenes Ausgehverbot herrscht, haben wir es hier in Berlin mit einer vergleichsweise liberalen „empfohlenen“ (Ding 2014) Regelung zu tun, die Bewegung und Positionierung (Sitzen, Liegen, Körperformation) im öffentlichen Raum erlaubt, wenn insbesondere zwei Regeln eingehalten werden: Die Distanzregel (1,5 bis 2 Meter) und die Reinigungsregel, die nicht nur Waschungen, sondern auch Berührungsverbote einschließt.[ii]
So einfach diese Regeln zu sein scheinen, führen sie doch zu Änderungen und Problemen, auf die ich im Rest dieses Beitrags eingehen möchte. Denn „öffentlicher Raum“ bedeutet hier keineswegs eine abstrakte Größe, die etwa auf Medienkommunikation oder „Meinungsbildung“ beschränkt wäre. Der öffentliche Raum, von dem wir reden, deckt sich vielmehr weitgehend mit dem, was Goffman (2009) als „Interaktionsordnung“ bezeichnet hat. Es ist jener Raum, in dem wir Anderen körperlich begegnen, mit ihnen (auch durch und mit unseren Körpern) kommunizieren. Diese Interaktionsordnung ist übrigens auch dann am Werke, wenn wir alleine zuhause sind und etwas machen, gerade weil wir uns unbeobachtet dünken (also auch so an anderen orientieren). Und sie ist keineswegs nur auf die reine „Präsenz“ beschränkt: Der Körper ist ja auch im Spiel, wenn er ins Telefon spricht, vor dem Skype-Bildschirm sitzt oder auch, wie ich jetzt, mit den Fingern Tasten drückt oder, wie Du oder Sie jetzt, Buchstaben liest.
Symbolische Politik, kommunikatives Handeln und das Virus
Diese Körperlichkeit ist besonders bedeutend, wenn wir die Probleme im Umgang mit den neuen Regeln betrachten: Eine erste große Welle betraf die „Corona-Partys“, die Fragen der öffentlichen Versammlungen auf Plätzen, in Parks und anderen (zumeist nicht zufällig) urbanen Räumen.
In der Presse gab es Skandalberichte, auch im Netz fanden sich entrüstete Kommentare zu anderen Ansammlungen und „Corona-Partys“. Beachtenswert ist, dass hier die Medien selbst Bilder des öffentlichen Raums zur Deutung der Haltung der Bevölkerung heranzogen. Wer zum Beispiel das (verfremdete) Bild oben näher betrachtet, bemerkt (in groben Zügen), dass sie sehr moralisierend, ja skandalisierend sind, aber das, was sie zeigen wollen, nicht genau zeigen. Zwar befinden sich viele Leute auf dem Bild; bei näherer Betrachtung aber sehen wir, dass sich die Kleingruppen, die alle als geschlossene „Interaktionseinheiten“ gesehen werden könnten, offenbar weitgehend in ausreichendem Abstand von den anderen Gruppen befinden, wie etwa auch das unten stehende Bild veranschaulicht.
Solche Bilder dienten im öffentlichen Diskurs dennoch als Begründung für „Unvernunft“ (in) der Öffentlichkeit, die dann auch zur Verschärfung der Regeln am 22. März 2020 führte sowie zur Schließung weiterer öffentlicher Räume, zur Reduktion der Interaktionseinheiten auf zwei Personen und Haushalte und zum Verbot von Versammlungen. Es ist beachtenswert, dass hier nicht einfach die Interaktionen im öffentlichen Raum im Text-Diskurs gedeutet werden. Vielmehr dient der öffentliche Raum selbst als ein Indiz für die Einhaltung der Ordnung in der Bevölkerung und als Zeichen dafür, wie die Bevölkerung mit den Forderungen der Regierungen umgeht bzw. wie sie sie „versteht“. Entsprechend kann die Schließung des öffentlichen Raums ebenso als ein Zeichen verstanden, um der Bevölkerung den Ernst der Lage zu kommunizieren. Angesichts der Not-Ordnung könnten wir deswegen sagen, dass die Körperformationen „Symbole“ für die Ordnung und damit auch für die Verstöße und Regelungen werden. Auch das lokale Versammeln der Jugendlichen wäre aus dieser Perspektive lediglich eine symbolische Performanz (Alexander/ Giesen/ Mast 2006), die möglicherweise nur gegen die Dominanz des (die Älteren vertretenden) Staates gerichtet ist, wie auch das breite Auftreten der Polizei im öffentlichen Raum ein Zeichen dafür ist, dass die Einhaltung der (in verschiedenen Städten, Kreisen, Bundesländern, Staaten deutlich unterschiedlichen) Not-Ordnung kontrolliert wird.
In der Tat ist die symbolische Bedeutung der Interaktionsräume durchaus ambivalent. Während etwa auch manche Gebäude und Orte vollständig unzugänglich gemacht werden, in denen das „Social Distancing“ leichthin eingehalten werden könnte, müssen sich sehr viele (nicht nur systemrelevante) Dienstleister*innen unmittelbar dem massenhaften und teils sehr engen Kontakt mit Anonymen aussetzen. Deswegen könnte die Bezeichnung „symbolische Kommunikation“ auch als Entlarvung verstanden werden, wie in manchen Verschwörungstheorien. Verwenden wir allerdings einen breiteren Kommunikationsbegriff, dann erkennen wir leicht, dass es sich bei der Corona-Krise und den entsprechenden Schließungen eben nicht „nur“ um reinen Sinn, Legitimation oder eben symbolische Politik handelt, um die Menschen bei der Stange zu halten. Denn auch wenn das Virus ein unsichtbares und (durchaus nicht einheitlich) wissenschaftlich bestimmtes Risiko darstellt, so macht es doch häufig genug und auf grausige Weise deutlich, wie sehr das kommunikative Handeln nicht nur „Sinn“ vermittelt, sondern in der Relation mit anderen materiell und körperlich ist. Selbst beim mündlichen Dialog hören, sehen und riechen wir nicht nur die anderen, wir tauschen auch gewissermaßen unseren Atem aus. Selbst wenn der Atem nicht immer so gefährlich sein muss wie beim Virus, zeigt sich auch hier, wie sehr das soziale Handeln über Objektivationen verknüpft ist und damit in einem prägnanten (auch für die Naturwissenschaften relevanten) Sinne „wirkt“.[iii] Es ist ja nun eine der Perfidien des Virus, dass es nicht wie das Sehen, Hören und Riechen auf sinnlich wahrnehmbaren Objektivationen beruht. Genau darin besteht ebendas Problem für uns wie für die medizinische Forschung, dass die Viren schwer wahrnehmbar und in ihrer Wirkung auch schwer deutbar sind. Aus diesem Grunde ist das Virus nicht lebensweltlich sofort evident, sondern bestenfalls als Wissen verfügbar und verfügbar zu machen. Weil das Wissen um das Virus, das so schwerwiegende Folgen haben kann, über die Wissenschaft vermittelt wird, haben wir es mit einem Risiko (Beck 1986) zu tun. Dass dieses fürs alltägliche Handeln relevante Wissen von wissenschaftlichen Experten erzeugt und von spezialisierten Institutionen getragen wird, trägt zur Vereinseitigung nicht nur der Wissensproduktion und damit der Macht von Wissen bei, sondern verschärft auch die Wissensungleichheiten und schafft damit Raum für Nichtwissen sowie alternative und oppositionelle Deutungen, zu denen auch Verschwörungstheorien gehören.
Die Refiguration der Interaktionsordnung
Das Risiko des Virus führt zu Änderungen der Interaktionsordnung, denen auf verschiedene Weisen begegnet werden kann. Weil es sich um ein materielles Problem handelt, kann es (a) materiell bewältigt werden, falls wir genügend Mundschutzmasken, Test-Sets und Hygienemaßnahmen oder gar eine medikamentöse Antwort auf das Virus finden. Das Interaktionsproblem kann (b) auch durch Autorität bewältigt werden, wenn es etwa mit Verboten und Ausgehsperren von den Regierungen mit Macht verordnet und durchgesetzt wird. Allerdings stießen selbst situative Autoritäten, wie etwa die selbstorganisierte Regelung von Zugängen zu Spielplätzen durch selbsternannte Personen in unserer Gesellschaft zurecht auf Widerspruch, würde sie doch zu sehr an ehemalige „Führungsstrukturen“ (etwa den „Blockwart“) erinnern; dies gilt sicherlich und hoffentlich für die zeitliche Ausdehnung der Autorität durch die Regierungen im Rahmen der Not-Ordnung. Deswegen liegt es nahe, (c) die situativen Veränderungen der Interaktionsordnung zu beobachten und nach Lösungen zusuchen.
Dass es Probleme gibt, wird nicht erst an diesem Beispiel einer Demonstration deutlich. Denn das „Social Distancing“ oder genauer, die (das Atmen, Husten und Sprechen einschließende) leibkörperliche relationale Distanz lässt sich nicht durchgängig durch die Ausweitung auf die schon relativ stark konventionalisierte digitale Kommunikation bewältigen, die entscheidend zur Refiguration des Raums beiträgt.[iv] In der „Face-to-face“-Interaktion ist es aber auch nicht durch die Messung der Körperdistanz (1,5 bis 2 Meter) zu bewältigen. Auch wenn die zusätzliche Bemessung der Kontaktzeit, wie in der Epidemiologie üblich, durchaus hilfreich sein kann (Valdez et al 2018), sind neben messbaren Distanzen und Kontaktzeiten für uns als Handelnde und als Beobachtende die qualitativen Formen relevant, in denen wir uns mit unseren Körpern mit den anderen in den Räumen begegnen und bewegen. In der Tat sind die Abstimmungen in unseren alltäglichen Routine-Interaktionen häufig so stark habitualisiert wie die Bewegungen langjährig geübter Tanzpaare. Das Körperwissen leitet sie auf eine Weise, die uns auch bei Interaktionen die Hände unbesehen und quasi automatisch finden und schütteln lässt.
Aber das Körperwissen betrifft auch unsere eingespielten Fähigkeiten zur Koordination der Mobilität der ganzen Körper. Wie von Zauberhand gelingt es hunderten von Menschen, auf einem eng besetzten Platz ohne jede Berührung vorbeizukommen, und ohne zu stolpern koordinieren wir uns beim Aneinandervorbeigehen auf die Millisekunde. Es gibt auch erkennbare kulturelle Muster etwa der Körperdistanz bzw. ‚Proxemik‘, die sich etwa schon zwischen den angelsächsischen und den romanischen Ländern im Westen unterscheiden.[v] Dazu gehören auch Grußrituale wie das Händeschütteln, das Umarmen oder der Wangenkuss, die hierzulande Subkulturen, Milieus und ethnische Gruppen unterscheiden, wie sie ganze Weltregionen kulturell oder (wenn wir an die Enge städtischer Slums denken) sozialstrukturell auszeichnen. Diese zumeist unbemerkt bleibenden Kulturen, Wissensformen und Leistungen der Bewegungen unserer Körper zueinander und miteinander sind nun aber keineswegs mehr trivial: Die Abstandregel und die Hygieneregel verändern sie auf Weisen, die einer Refiguration des Raums gleichkommt. Von einer Refiguration ist schon bei der Reduktion auf die kleinsten Interaktionseinheiten die Rede, doch werfen auch viele andere Situationen Probleme auf, die mit den beiden Grundregeln nicht leicht zu beantworten sind.
Denken wir nur etwa an die Rolle des „Gesichts“, die große kulturelle Unterschiede kennt. Hatten viele westliche Staaten sogar Gesetze gegen die Verschleierung des Gesichts erlassen, wird die Maske nun möglicherweise auf längere Sicht zu einer Form der „presentation of self“ (Goffman) bei uns werden, die das „facework“ massiv erschwert. Wie die noch merkwürdig wirkende größere Distanz beim Gespräch hat dieser „Gesichtsverlust“ auch Folgen für die interaktiven Verläufe, die ‚Spiegelung‘ des Selbst und damit für die Identität, die zu negativen Emotionen und interpersonalen Konflikten führen können. Sie wird auch die Formen der Höflichkeit beeinflussen, die Umgangsformen, und, unterstützt von der Digitalisierung, den längerfristigen Trend zur Informalisierung möglicherweise wieder umkehren.[vi]
Wie meine eigenen videographierten Beobachtungen zeigen, stellen sich auch regelrechte Koordinationsprobleme im Interaktionsraum ein. Auf einem viel frequentierten etwa zwei Meter breiten Spazierweg zeigt sich zum Beispiel, dass zwar viele Fußgänger den geforderten Abstand halten; die meisten „Paare“ aber gehen so nebeneinander, dass für überholende oder entgegenkommende Dritte ein ausreichender Abstand nicht gewährleistet ist. Die Koordination zwischen Fahrrädern, Joggenden und Familien mit kleinen Kindern muss ebenfalls häufig noch in jeder Situation neu ausgehandelt werden. Zwar finden wir neue Konventionen, wie etwa das Schlangestehen auf Abstand, doch wirft die räumliche Ausweitung der Schlange mehr Probleme für all die auf, die durch die Schlange hindurch müssen oder an ihren Rändern beschäftigt sind.
Noch größer können die Probleme in geschlossenen Räumen sein: Wie gelingt es uns, in einer Bäckerei am Tresen vorbeizukommen, wenn der Gang mit einer wartenden Person besetzt ist, die andere Personen nicht zu bemerken scheint? Welche Interaktionsrituale erlauben es uns, die andere Person aufzufordern, zu warten, zur Seite zu gehen oder Abstand zu nehmen, ohne unhöflich, besserwisserisch oder penetrant zu wirken (und entsprechende Reaktionen einzuladen)? Das betrifft noch mehr die anderen Bewegungsformen, allen voran das nun von höchster Stelle anerkannte Grundbedürfnis des Sporttreibens: Jogger, die ohne jeden Selbstzweifel die Mitte des Weges durchpflügen und Entgegenkommenden nicht ausweichen, als sei ihnen dieser Seitenschritt eine Bewegung zu viel, oder Fahrradfahrer, die sich an der Ampel direkt neben anderen Radfahrer aufstellen? Vielleicht mag man meinen, dass diese momentanen Nähen unbedeutend seien; virologisch aber scheinen gerade Sporttreibende mit ihrer starken Respiration durchaus nicht unproblematisch. Noch offener wird dieses Interaktionsraumproblem, wenn wir auf Fragen der Nutzung privater Räume gehen, etwa der Nachhilfelehrerin, die ihre Schüler zuhause empfängt. Was ist mit der Putzfrau, die ihr Geld verdienen möchte? Noch dringlicher werden die Fragen, wie wir uns in den Großraum-Büros oder Supermärkten bewegen?
Da eine Ausbreitung der Pandemie nur möglich ist, wenn das Virus in Interaktionen vermittelt wird, scheint es unbedingt nötig, den Raum der Interaktionen näher zu betrachten. Vor allem, wenn wir mit dem Problem der Corona-Krise auch unter gelockerten Umständen noch länger umgehen müssen, wird es wichtig sein, die daraus resultierenden Änderungen der Interaktionsordnung und die damit verbundenen sozialen Raum-Probleme nicht nur zu beobachten und damit Aufschluss über die Refiguration zu erhalten. Gerade weil die Refiguration kein subjektloser Determinismus ist, sondern auf Handlungen zurückgeht, können wir auch zu Veränderungen dieser Interaktionsordnung beitragen. Ähnlich wie wir etwa im Umgang mit den Geschlechtern und mit der Umwelt vermeintlich tief sitzende „Verhaltensweisen“ verändern konnten, dürfte es deswegen mit einer solchen (durch virologisches Wissen ergänzten) Forschung möglich sein, die Raum-Probleme der Interaktionsordnung zu identifizieren und, mit der Hilfe unserer angewandten Disziplinen, die Interaktionsordnung so mitzugestalten, dass sich die Spuren der gegenwärtigen Not-Ordnung nicht verfestigen.
Alexander, Jeffrey, Bernhard Giesen, Jason L. Mast (2006): Social Performance. Symbolic Action, Cultural Pragmatics and Ritual. Cambridge: Cambridge University Press.
Beck, Ulrich (1986): Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
Ding, Huiling (2014): Transnational Quarantine Rhetorics: Public Mobilization in SARS and in H1N1 Flu. „J Med Humanit“ 35, 191–210 (2014). https://doi.org/10.1007/s10912-014-9282-8
Goffman, Erving (2009): Interaktion im öffentlichen Raum. Frankfurt am Main: Campus.
Hall, Edward T. (1982): The Hidden Dimension. New York: Anchor Books.
Knoblauch, Hubert (2017): Die kommunikative Konstruktion der Wirklichkeit. Wiesbaden: VS.
Knoblauch, Hubert, Löw, Martina (2020): The Re-Figuration of Spaces and Refigured Modernity – Concept and Diagnosis. Historical Social Research 45 (2): 263-292. doi: 10.12759/hsr.45.2020.2.263-292 .
Pueyo, Tomas (2020): Coronavirus: The Hammer and the Dance. What the Next 18 Months Can Look Like, if Leaders Buy Us Time. https://medium.com/@tomaspueyo/coronavirus-the-hammer-and-the-dance-be9337092b56.
Valdez, L.D., C. Buono, P. A. Macri and L. A. Braunstein (2018): Social distancing strategies against disease spreading. WSPC – Proceedings 19/8, September 26, 2018, pp. 1-.28.
Wouters, Cas (1999): Informalisierung. Norbert Elias‘ Zivilisationstheorie und Zivilisationsprozesse im 20. Jahrhundert. Opöaden:Westdeutscher Verlag.
[i] Ich danke Nina Baur, Barbara Goll, Nina Elsemann, Ricarda Kaiser, Martina Löw und Rene Tuma für Anregungen, Korrekturen und Kommentare. Der Text baut auf einem früheren Blog auf, den ich zusammen mit Martina Löw verfasst habe
[ii] Am 12. März verordneten Bund und Länder, dass (1) der Kontakt zu Mitgliedern außerhalb des Haushalts auf ein Minimum reduziert werden sollte; (2) mindestens 1,5 Meter Abstand in der Öffentlichkeit zu anderen gewahrt werden sollte; der Besuch öffentlicher Plätze nur zur zweit gestattet sei und Fahrten und Reisen auf das Notwendigste zu beschränken, individueller Sport aber noch möglich sei. Vgl. www.bundesregierung.de; www.bundeskanzlerin.de.
[iii] Auch technisch mediatisierte Handlungen können so verstanden werden, denn sie sind zwar entkörperlicht, bleiben aber von der Materialität der Medien abhängig. Zum Konzept leibkörperlicher Performativität als Wirken und zum entsprechenden Grundbegriff des kommunikativen Handelns Knoblauch (2017).
[iv] Steffen Mau nennt das im Tagesspiegel vom 1.4.2020 „distant socializing“.
[v] Klassisch zur Proxemik ist der Text von Hall (1982).
[vi] Damit würde der Trend zur Informalisierung gebrochen werden, den Wouters (1999) im Anschluss an Elias in den westlichen Gesellschaften beobachtet hat.