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Klimaanpassung ist eine Form der Überlebenskunst

5. Mai 2023

SFB Projektleiter Ignacio Farías im Gespräch mit Brenda Strohmeier

Städte und Städter tragen nicht nur selbst stark zur Klimaerwärmung bei, sondern sie sind auch auf besondere Art selbst davon betroffen. Das Teilprojekt C05 untersucht am Beispiel von Stuttgart und der japanischen Stadt Fukuoka, wie eben dieses Wissen nach und nach in die Arbeit von Wissenschaftlern, Stadtplanern und Politikern ankommt und sich schließlich in konkreten Maßnahmen niederschlägt. Projektleiter Ignacio Farías, Professor für Stadtanthropologie an der Humboldt Universität, erklärt, wie eine sozialwissenschaftliche Analyse dem Überleben in einer kaputten Welt dient.

Brenda Strohmaier: Warum habt ihr ausgerechnet Stuttgart ausgesucht?

Ignacio Farías: Stuttgart ist sehr interessant, um zu analysieren, wie meteorologische und klimatologische Konzepte in die Stadtplanung kommen. Die Stadt hat schon sehr früh angefangen, mit Meteorolog:innen zu arbeiten. Schon in den 1930er-Jahren, zu Beginn des Zweiten Weltkriegs, wurde eine kleine Abteilung im Planungsreferat der Stadt eingerichtet. Der erste Auftrag war, die Möglichkeit einer künstlichen Vernebelung Stuttgarts zu erforschen. Ziel war es, zu verstehen, wie man die Stadt mit Rauch verdecken könnte, um sie so vor den Bomben der Alliierten zu schützen. Da fing man an zu begreifen, dass eine Stadt nicht nur aus Straßen und Gebäuden besteht, sondern dazu auch ein besonderes Ökosystem gehört, in dem Wind und Temperatur eine große Rolle spielen.

BS: Ich hätte gedacht, dass Stuttgarts klimapolitische Vorreiterrolle damit zu tun hat, dass die Stadt in einem Tal liegt, in dem sich der Smog staut.

IF: Beide Sachen gehören zusammen. Stuttgart ist für deutsche Verhältnisse sehr schwül und relativ warm. Wenn sich wegen der Tallage Luft und Smog stauen, ist das besonders unangenehm. Nach dem Krieg ging es zunächst um das lokale Klima. Walter Hoß, ein Architekt, der das Komitee für den Wiederaufbau der Stadt leitete, brachte die Idee der Klimaplanung ein, wonach bestimmte Bereiche der Stadt für die Zirkulation von Wind frei bleiben müssen. In den 1960ern hat man schon Straßen erweitert, um eben solche Windkanäle zu schaffen.

1976 fand in Vancouver die erste Habitat-Konferenz der Vereinten Nationen statt, bei der es darum ging, wie man urbanes Wachstum steuern könnte. Stuttgarts Beitrag war eine Film-Doku, in der die Stadt ihren ökologischen Ansatz erklärte[1]. Dieser fand sehr viel Beachtung, und seitdem ist Stuttgart einen wichtigen Standort, wo stadtklimatologisches Wissen in die Stadtplanung hineingebracht wird.

3D-Modell des „Kessels“: Die Stuttgarter Innenstadt ist der tiefste Punkt und im Sommer der heißeste Ort (© Indrawan Prabaharyaka).

BS: Stuttgart ist somit Pionier der weltweiten Stadtklimapolitik?

IF: Die Erforschung des Stadtklimas, Anfang des 20. Jahrhunderts noch Kleinklima genannt, wurde stark an deutschen Universitäten vorangetrieben, etwa in München. Das ist eine lange und komplexe Geschichte, die wir dabei sind zu rekonstruieren. Es waren zum Beispiel Landschaftsökolog:innen, die in den 1960ern den Begriff des Klimatops entwickelten. Ein Klimatop ist die kleinste räumliche Einheit, von der man ausgeht, dass darin ein homogenes Klima herrscht. In den 1980er-Jahren übernahmen Klimaforscher*innen den Begriff und passten ihn für den städtischen Raum an. Es ging um die Frage: Wie kann man die Stadt als ein Mosaik von unterschiedlichen Klimatopen verstehen? Schließlich begann man zuerst im Ruhrgebiet zu kartieren, wo sich ganz bestimmte Stadtklimatopen befinden.

BS: Und wie wird aus Klimawissen dann Klimapolitik?

IF: Das hat Stuttgart vorgemacht. 1992 hat dort der Nachbarschaftsverband Stuttgart – ein Zusammenschluss von Interessenvertretern der Stadt Stuttgart und benachbarten Gemeinden – einen Klimaatlas entwickelt, der nach dem Beispiel des Ruhrgebiets die Stadtregion nach unterschiedlichen Klimatopen kartografiert und charakterisiert. Der Klimaatlas fungiert dabei als Input für den Flächennutzungsplan. Es besteht aus so genannten Planungshinweiskarten. Die Hinweise definieren Rahmenbedingungen für die Stadtentwicklung und beinhalten auch kritische Anmerkungen zu den geltenden Flächennutzungsplänen der Kommunen. Klimaatlasse gab es auch vorher, also für große klimatische Regionen. Aber in Stuttgart wurde das Prinzip erstmals auf eine Stadt angewandt. Dabei sind auch neue Klimatope identifiziert worden, wie etwa der Laufbahn-Klimatop, der an die Raumfigur des Bahnenraums  erinnert. Sehr viele Städte in der Welt haben seither nach dem Beispiel Klimaatlasse entwickelt, wobei sie darin variieren, was sie wie genau messen und beschreiben.

BS: Und das Konzept kam auch in Fukuoka an?

IF: Ja. Es gibt seit den 1990er Jahren eine enge Kooperation zwischen deutschen und japanischen Stadtklimatolog:innen. In der Vorrecherche zu unserem Projekt bin ich auf japanische Klimatologen gestoßen, die den Klimaatlas als „eine Art westliche Feng-Shui“ beschreiben und so versuchen, die Idee vom Atlas in eine asiatische Art zu übersetzen, über Raum nachzudenken.

BS: Was macht Fukuoka sonst noch zu einer Pionierstadt?

IF: Das ist eine der ersten Städte in Japan, die sich überhaupt intensiv mit klimatischer Anpassung beschäftigt. Die Stadt liegt im Südwesten Japans am Meer, es herrscht ein subtropisch-schwüles Klima mit sehr vielen heißen Tagen. Dort sind die Temperaturen in den vergangenen Jahrzehnten noch stärker angestiegen sind als im Rest des Landes. Dazu ist Fukuoka die einzige Stadt in Japan, die richtig wächst und wo viel gebaut wird. Von daher ist es ein guter Ort, um sich Klimapolitik anzuschauen. Wobei uns ja vor allem die begriffliche Entwicklung interessiert, also Fragen, die über konkrete Städte hinausgehen. Wir wollen einfach wissen, wie es zu bestimmten Problematisierungen von Hitze in der Stadt kommt. 

BS: Was genau meinst du mit der „Problematisierung von Hitze“?

IF: Problematisieren bedeutet, ein schwammiges Problem genauer zu definieren, um dann bestimmte Maßnahmen zu ergreifen. Im Fall von Fukuoka ist das sehr interessant, dort dreht sich alles um einen bestimmten Begriff namens „kaiteki kankyou“, wir übersetzen ihn mit „Umweltkomfort“. Es geht in den Diskussionen in der Stadt immer darum, wie öffentliche Räume so gestaltet werden können, dass man sich darin temperaturmäßig wohlfühlt. In Deutschland dagegen wird viel mehr darüber diskutiert, wie sich Hitzebelastung reduzieren lässt, also eine Belastung, die nicht nur bei Hitzewellen, sondern auch bei normal heißem Wetter ständig da ist und den Körper besonders anstrengt.

BS: Und wie hilft euch Raumtheorie bei eurer Forschung?

IF: In unserer Forschung geht es zunächst speziell darum, die Raumvorstellungen sowie die daran anschließenden städtebaulichen Projekte von Klimaforscher*innen und Stadtplaner:innen zu analysieren in Bezug auf die Frage der darunterliegenden Raumfiguren. Es gibt zum Beispiel Versuche, Raum deutlich kleinteiliger als die bisherigen Klimatopen zu kartografieren, um herauszufinden, wie sich alle 10, 15 Meter die klimatischen Bedingungen verändern, je nach Lage, Sonnenstand, Fassade, Straßenbelag. In einem zweiten Schritt werden wir tatsächlich schauen, inwieweit diese Raumfiguren mit den angedachten Raumfiguren des SFB zusammenpassen.

BS: Welche Refiguration, also welche Art sozialräumlicher Wandel, ist für euch speziell relevant?

IF: Uns geht es vor allem darum, wie sich die Vorstellung vom Stadtklima verändert. Schon Ende des 19. Jahrhunderts hat man festgestellt, dass Städte wärmer sind als ihre Umgebung, dass sie Hitzeinseln bilden. In den 1920er Jahren wurde das zu einem wichtigen Thema. Dann kam der nächste, gewaltige Schritt, der die Stadt nicht mehr nur als eine Insel dachte, sondern als Archipel von vielen, kleinen Inseln dachte, von denen einige unter bestimmten Bedingungen wärmer sind als andere. Die ganz profunde Refiguration besteht darin, die Stadt und die Stadtplanung anhand von solchen Problematisierungen als ökologischen Raum zu denken, wo Ökotopen, Biotopen, Klimatopen die relevanten Einheiten bilden, die definieren, was und wie wo möglich ist. Das ist eine gewaltige Refiguration, die dann mit einer ganz neuen Politik einhergeht.

BS: Wie sieht die dann aus?

IF: Da gibt es unzählige konkrete Maßnahmen, dazu gehören etwa Schatteninfrastrukturen oder Begrünungsstrategien. Wir interessieren uns für die techno-politische Prozesse, wodurch das schwer greifbare Phänomen Klimaerwärmung in konkrete Maßnahmen übersetzt wird. Das Ergebnis von diesen Übersetzungsprozessen ist das, was wir „Städtebauliche Mikroklimaregime“ nennen. Sie sind das was wir untersuchen und reflektieren.

Ikonische Mikroklimainfrastruktur: Das Acros (Foto: Kenta Mabuchi).

BS: Und das hat bisher keiner getan?

IF: Es gibt natürlich sehr viel Forschung zu Klimaschutz und Klimaanpassung in Städten. Aber eine kulturwissenschaftliche Analyse dieser Prozesse, gerade in Bezug auf die räumliche Imagination und Konstruktion der Zukunft, fehlt zum Teil noch. Was ich damit meine, kann ich anhand von zwei Beispiele aus Madrid erklären. Dort pflanzt man zurzeit einen Stadtwald, um in den nächsten 50 Jahren einen grünen Gürtel um die Stadt zu schließen. Es geht also um eine ferne Zukunft; eine Zukunft, die die meisten Bewohner*innen Madrids nicht erleben werden. Gleichzeitig ist diese Zukunft zum Greifen nah. Die Bäume, die in 50, 100 Jahren, die ganze Stadt kühlen sollen, werden heute gepflanzt. So entsteht ein Kontinuum zwischen heute und dieser fernen Zukunft. Zum anderen haben Architekten eine Straße, eine dieser typischen baumlosen Madrider Steinwüsten, in einen „Eco-Boulevard“ verwandelt. Sie haben drei Strukturen dort hingebaut, die sie Bäume nennen. Das sind Metallkonstruktionen, die an Gasometer erinnern und in denen Pflanzen wuchern. Die werfen nicht nur Schatten, sondern machen die Luft etwas feuchter. Hitze wird dabei als ein extrem lokales Phänomen gedacht. Es geht also nicht wie beim Stadtwald darum, die stadtweite Erwärmung entgegenzuwirken. Es geht auch nicht um eine ferne Zukunft. Sobald diese Bäume hingebaut sind, wirken sie ja auch. Sie lösen sofort ein extrem lokales Problem, also für die Leute, die in dieser Nachbarschaft wohnen. Die Vision war, dass man diese Lösung repliziert, bis man irgendwann die ganze Stadt mit diesen artifiziellen Bäumen bebaut hat. Das Projekt hat man inzwischen verworfen, aber ich schildere es, weil es gerade im Kontrast zum Stadtwald zeigt, wie unterschiedlich die Ideen und Infrastrukturen sind, die zur Refiguration von Stadträumen als klimaresilienten Räume entwickelt werden.

BS: Und der ganz große Raumbezug ist dann die Rettung des Globus?

IF: Natürlich ist es wichtig, den Impact urbaner Räume auf die globale Klimaerwärmung reduzieren. Aber nicht nur. Die Mehrheit der Menschheit wohnt in Städten. Und für die geht es erst mal darum, in einer kaputten und zum Teil auch irreparablen Welt irgendwie überleben zu können. Klimaanpassung ist also Form der Überlebenskunst.

Autor*inneninformationen:

Dr. Ignacio Farías ist Professor für Urbane Anthropologie an der Humboldt-Universität zu Berlin und leitet das SFB 1265-Teilprojekt C05 „Städtebauliche Mikroklimaregime“.

Dr. Brenda Strohmaier ist Journalistin, promovierte Stadtsoziologin und freie Kuratorin an der Berliner Bildungsinstitution Urania.


[1] https://www.youtube.com/watch?v=-av6g4gdvw4