Die fahrradfreundliche Stadt für alle? Überlegungen zu Ein- und Ausschlüssen der aktuellen Radverkehrsentwicklung in Berlin
Es sind goldene Zeiten für den Radverkehr in Berlin: Seit Jahren steigt der Anteil der Radfahrer*innen kontinuierlich, Politik und Verwaltung zeigen sich kooperativ, neue Planungsstellen werden geschaffen und die Infrastruktur sukzessive ausgebaut. Das Ziel einer fahrradfreundlichen Stadt scheint zum Greifen nah.
Aber von vorn: Die Forderung nach einer umfassenden Verkehrswende begründet sich vor allem mit Blick auf die vielfältigen negativen Auswirkungen des motorisierten Individualverkehrs. Dabei hat insbesondere der Radverkehr als pars pro toto der nachhaltigen Mobilität in den letzten Jahren einen starken Bedeutungszuwachs erfahren, der aktuell durch die Corona-Pandemie noch weiter ins öffentliche Bewusstsein gerückt ist. Große mediale Aufmerksamkeit erfuhren zuletzt der Boom in den Absätzen der Fahrradwirtschaft sowie die berüchtigten Pop-Up-Radwege, die auf zentralen Straßen Berlins kurzfristig eingerichtet wurden. Aus verkehrsplanerischen Gesichtspunkten leuchtet es ein, dass das Radfahren positiv konnotiert und unbedingt förderungswürdig ist: Radfahren ist gesund[1], auf kurzen Strecken zeiteffizient sowie umweltfreundlich und energieeffizient[2], raumsparend, für Städte und Regionen volkswirtschaftlich gewinnbringend und für Nutzende vergleichsweise kostengünstig und zugänglich[3]. Vereinfacht gesagt, bietet das Fahrrad für viele Probleme, die mit dem Automobil als individuellem, städtischem Verkehrsmittel einhergehen, eine einfache und gesellschaftlich vielversprechende Lösung (vgl. Pucher und Buehler 2012).
Dabei ist das Fahrrad gleichzeitig sowohl eines der einfachsten und minimalistischsten Verkehrsmittel, die es überhaupt gibt, als auch ein technisch hochentwickeltes, vielfältiges und individualisiertes Objekt, das für sehr viele verschiedene Nutzungen und Nutzer*innengruppen geeignet ist (vgl. Cox 2019; Vivanco 2013). Menschen fahren aus unterschiedlichsten Gründen Fahrrad, z.B. aus Notwendigkeit, Spaß, Gesundheitsförderung, Sport, Überzeugung, aus praktischen Gründen oder um ihre Zugehörigkeit zu einer bestimmten Lebensstilgruppe zu zeigen. Mindestens genauso viele Gründe gibt es, das Rad nicht zu nutzen.
Kritisches Potenzial – Alltagspraktiken und Raumproduktionen
Gerade in urbanen Räumen, die innerstädtisch mit einer dichten und kompakten Bauweise über ideale Bedingungen für Rad-, Fuß- und öffentlichen Verkehr verfügen, führt die Dominanz des motorisierten Individualverkehrs zwangsläufig zu einer Diskriminierung anderer Transportmittel und Nutzungsarten. Den Alltagspraktiken des Radfahrens und Zufußgehens kommt hier in mehrfacher Hinsicht eine wichtige Bedeutung zu: Neben den beschriebenen positiven Effekten für eine nachhaltige Verkehrsentwicklung sind sie einerseits als performative Kritik an bestehenden automobilen Raum- und Verkehrsstrukturen zu verstehen, andererseits findet hier eine eigene Art der Raumproduktion statt. Etwas idealisiert kann von einer subversiven Belebung und Aneignung von Räumen „against all odds“ gesprochen werden. Städtische Räume werden durch Radfahren oder Zufußgehen neu bespielt und konstituiert, gerade dort, wo sie vor allem als monofunktionale Verkehrsräume für den motorisierten Individualverkehr konzipiert worden sind. Dies wird z.B. bei den Critical-Mass[4]-Veranstaltungen deutlich. Diese sind als kurzfristige und flüchtige Umsetzung einer Utopie zu verstehen, in der sich die bestehenden Machtverhältnisse auf den Straßen zugunsten des Radverkehrs verschieben: „By taking action which temporarily transforms the cityscape to one dominated by bicycles, pedestrians and the sound of human voices, an alternative, sustainable society is being, however temporarily, brought into existence“ (Horton 2006, S. 55).
Des Weiteren erlauben Radfahren, Zufußgehen und die Nutzung des ÖPNV einen direkten und sinnlichen Kontakt und Austausch mit der städtischen Umwelt und anderen Menschen. Radfahrende, die sich mithilfe eigener Muskelkraft weitestgehend ungeschützt fortbewegen, sind deutlich weniger gegen ihre Umgebung abgeschottet als Autofahrende und werden durch ihre direkte Präsenz sowie den möglichen Interaktionen mit anderen wesentlich ‚menschlicher‘ wahrgenommen als das technische Objekt Automobil (vgl. Jensen 2010; Spinney 2006). Das Fahrrad produziert damit eine räumliche und soziale Nähe zwischen den Menschen. Es begünstigt so auch die Wiederbelebung von Innenstädten und öffentlichen Räumen bis hin zur Konstitution von demokratischen Subjekten. Denn manche Leute werden zu bürgerschaftlichem Engagement angeregt, eben weil sie sich durch das Radfahren stärker mit den von ihnen genutzten und erlebten Nachbarschaften, städtischen Räumen und öffentlichen Gütern identifizieren (vgl. Aldred 2010) – hier dient das Fahrrad als Werkzeug einer nachhaltigen Stadtentwicklung für eine lebenswerte Stadt, wie es u.a. von Radverkehrsinitiativen eingesetzt wird.
Bedeutungswandel des Radverkehrs – Aktuelle Radverkehrsförderung, -entwicklung und -politik in Berlin
Aus einer internationalen Perspektive gilt Berlin als vergleichsweise fahrradfreundliche Stadt. Doch während der Radverkehrsanteil in den letzten Jahren kontinuierlich und deutlich gestiegen ist, wurden die fahrradnahen Infrastrukturen und Dienstleistungen nicht ansatzweise entsprechend ausgebaut – was sich in den fortwährend schlechten Ergebnissen Berlins in nationalen Vergleichsstudien zur Fahrradfreundlichkeit widerspiegelt (vgl. ADFC 2021). Erst aufgrund der umfangreichen Arbeit radverkehrspolitischer Initiativen steckt die Stadt mitten in einem großen infrastrukturellen Wandel, der 2018 mit dem neuen Berliner Mobilitätsgesetz politisch beschlossen worden ist. Aus meiner eigenen (durch Beteiligung verzerrten) Perspektive sind hier vor allem die Projekte Volksentscheid Fahrrad und Radbahn Berlin zu nennen: Die Renderings der Radbahn Berlin haben Ende 2015 den Diskurs auf einer emotionalen und symbolischen Ebene angestoßen und sozusagen einen visionären Sehnsuchtsort auf eine konkrete planerisch vernachlässigte Stadtlandschaft projiziert. Fast zeitgleich gelang es dem Volksentscheid Fahrrad im Jahr 2016die Berliner (Rad-)
Verkehrspolitik in einem großen Kraftakt komplett umzudrehen. Dies funktionierte einerseits durch ein verändertes Planungsverständnis – in dem eine flächendeckende, sichere und komfortable Radverkehrsinfrastruktur gefordert wurde – sowie durch eher klassische Maßnahmen sozialer Bewegungen und Bürger*innenbeteiligung – wie Demonstrationen, Mahnwachen, Öffentlichkeitskampagnen, aber eben auch lokale Netzwerkstrukturen und direkte Demokratie. Damit wurde die Grundlage für den Radverkehrsteil des Berliner Mobilitätsgesetzes und ein (fast) milliardenschweres Radverkehrsinfrastrukturprogramm gelegt (vgl. von Schneidemesser et al. 2018).
Neben den radverkehrspolitischen Initiativen ist Berlin aber auch mit seinen hunderten Fahrradläden, bekannten Messen und Rennen sowie lebhaften und heterogenen fahrradbezogenen Szenen einer der europäischen Hotspots urbaner Radkultur. Dabei zeichnet sich bei der gesellschaftlichen Normalisierung und den damit einhergehenden Ausprägungen und symbolischen Bedeutungen des städtischen Radfahrens ein grundlegender Wandel ab: Galt das Fahrrad seit dem Siegeszug des Automobils und der autogerechten Stadt- und Verkehrsplanung lange Zeit nur als Spiel- und Sportgerät, so ist es heute – ähnlich wie zur Hochzeit des Radverkehrs vor etwa hundert Jahren schon einmal – wieder ein Lifestyle- und Distinktionsmittel großstädtischer Bevölkerungsschichten, ernstzunehmendes Verkehrsmittel und Symbol der Verkehrswende und geht mit veränderten Vorstellungen eines ‚guten‘ städtischen Zusammenlebens einher (vgl. Carstensen und Ebert 2012).
Der Ausgangspunkt solcher Entwicklungen liegt vor allem in verschiedenen städtischen und internationalen fahrradbezogenen Subkulturen, z.B. der Fahrradkurier-Szene (vgl. Furness 2010). Subkulturen, die ehemals nur von Profisportler*innen oder Fahrradkurier*innen gelebt wurden, sind heute Teil der Popkultur und gehen teilweise mit einer starken Kommerzialisierung, Ausdifferenzierung, Distinktion und Zurschaustellung einher, die eine Ästhetisierung und Lebensstilisierung des Fahrrads in unterschiedlichen Szenen (z.B. Fixie-, Rennrad-, Gravel-Szene) und Gesellschaftsbereichen (z.B. Mode, Fahrradwirtschaft, Medien) herbeigeführt haben (vgl. Hoor 2020):
- Hipster, die Fixie fahren, Messenger Bags tragen oder sich schicke Rennräder, Gravelbikes und Radklamotten leisten.
- Fixed-Gear und Gravel-Rennen in denen Hobby- und Amateursportler*innen gegen Fahrradkuriere und (Ex)-Profis fahren.
- Leute, die sich ihr Fahrrad ins Wohnzimmer hängen, anstatt es auf der Straße stehen zu lassen.
- Teure Accessoires und Kleidung aus Fahrradindustrie und Mode, die einen minimalistischen Design-Stil mit einer fahrradspezifischen Funktionalität verbinden.
- Fahrradläden, die nicht nur Fahrräder verkaufen, sondern auch als hippe Cafés, Treffpunkte, Restaurants oder Bars fungieren.
- Medienbeiträge in Zeitungen, Film und Werbung in denen das Fahrrad als cooles und nachhaltiges Fortbewegungsmittel gefeiert und mit neuen Geschichten belegt wird.
Dies sind Entwicklungen, die wiederum nicht radverkehrspolitisch gefördert wurden, sondern sich weitestgehend parallel und überschneidungsfrei aus subkulturellen sowie hedonistischen, sportiven, medialen und wirtschaftlichen Interessen herausgebildet haben und zeigen, dass das Fahrrad auch fernab der Verkehrspolitik einen symbolischen Wandel zum Lifestyle- und Statussymbol junger Großstädter*innen erlebt hat.
Ein- und Ausschlüsse der aktuellen Radverkehrsentwicklung
Trotz der genannten kulturellen Entwicklungen, politischen Erfolge und partiellen baulichen Maßnahmen (z.B. Pop-Up-Radwege, Protected Bike Lanes) ist das Radfahren in Berlin wegen des langsamen Ausbaus, des fortwährenden Mangels an sicherer und komfortabler Radinfrastruktur sowie der bestehenden automobilen Dominanz noch immer als eine untergeordnete Fortbewegungsart zu bewerten, die immer wieder Mut, Geschick und Erfahrung erfordert. Mit einer flächendeckenden und angemessenen Radverkehrsinfrastruktur könnten also deutlich mehr und diversere Personengruppen zum Radfahren gebracht werden. Damit stehen wir vor einer neuartigen Situation: Einerseits bedarf es einer noch viel konsequenteren, schnelleren, umfassenderen und langfristigeren Umgestaltung zur fahrradfreundlichen Stadt, um den Beitrag des Radverkehrs für die Verkehrswende auszureizen, die Beschlüsse des Mobilitätsgesetztes umzusetzen und ein schnelles, bequemes und sicheres Vorankommen im Stadtverkehr für breite Nutzer*innengruppen zu ermöglichen. Andererseits gilt schon heute, dass der Radverkehr etwas von seiner ehemaligen Harmlosigkeit verloren hat: Das Fahrrad ist nicht mehr nur das Transportmittel von Ökos, Kindern und Punks, sondern – nach Richard Florida (2005) – ein Signifikant der Kreativen Klasse und städtischen Elite, der progressiven und wohlhabenden sozialen Milieus (vgl. Borgstedt et al. 2019).
Positiv hieran ist, dass dieser gesellschaftliche Bedeutungswandel für die jüngere Radverkehrsentwicklung mitverantwortlich ist und der notorisch subordinierten Radverkehrsförderung und -planung politisch in die Hände spielt. Allerdings geht dies auch mit neuen Herausforderungen einher, die hierzulande noch kaum reflektiert und diskutiert werden, sich aber durch eine simple sozial- und kulturwissenschaftliche Erkenntnis auf den Punkt bringen lassen: Jeder Einschluss produziert neue Ausschlüsse. Visionen einer „Radverkehrsinfrastruktur für Alle!“ (ADFC 2018, S. 11), der „Stadt für Morgen“ (Umweltbundesamt 2017) oder einer menschengerechten Stadt sind somit als wünschenswerte Zielsetzungen zu verstehen, erfordern aber das Bewusstsein um und die Arbeit an Fragen der In- bzw. Exklusivität.
Das Fehlen einer solchen kritischen Perspektive wird z.B. im nordamerikanischen Raum an den übergeordneten Leitbildern der ‚nachhaltigen Mobilität‘, ‚lebenswerten Stadt‘, ‚complete streets‘ etc. zunehmend kritisiert (vgl. Stehlin 2019; Lugo 2018; Lam 2018; Hoffmann 2016; Zavestoski und Agyeman 2015). Der Bau von Radinfrastruktur sowie die Revitalisierung des öffentlichen Raumes gehe mit einer Wiederentdeckung und Aufwertung der Innenstädte einher und komme somit insbesondere der ohnehin schon privilegierten Bevölkerung zugute. Dies wirke somit als eine moderne Form der Klassenpolitik, die bestehende soziale Ungleichheiten und Machtstrukturen (z.B. entlang der zentralen Diskriminationslinien wie Race, Klasse und Geschlecht) verfestige. Unter dem Deckmantel einer vermeintlichen Inklusivität, der Verkehrssicherheit oder eines demokratischen Auftrages weite sich soziale Ungleichheit aus.
Der Volksentscheid Fahrrad in Berlin war unter anderem deshalb so erfolgreich, weil er dem Berliner Abgeordnetenhaus innerhalb kürzester Zeit über 100.000 Unterschriften für seinen Antrag auf ein Volksbegehren vorlegen konnte – sein politischer Auftrag war damit eindrucksvoll untermauert, auch wenn es natürlich lautstarke Gegenstimmen gab und die politischen Unterstützer*innen keineswegs die Berliner Bevölkerung in Gänze repräsentierten. Auch der oben beschriebene Bedeutungsgewinn des Fahrrads im Sport- und Lifestyle-Bereich geht mit diesen Repräsentationsproblemen einher und reproduziert insbesondere männlich dominierte, kommerzielle oder individualistische Sichtweisen auf das Radfahren (z.B. MAMILS, Kampfradler, ‚Strong and Fearless‘), wodurch eine inklusive Entwicklung des Radsports, des Radverkehrs und einer sozialgerechten Stadtentwicklung behindert werden kann.
Synthese und Selbstkritik – Zwischen kritischem Potenzial, sozialer Distinktion und neoliberaler Produktivkraft
Was bedeutet das nun? De Facto gibt es nach wie vor die mobilitätskulturelle Hegemonie des „Systems der Automobilität“ (Urry 2004), welches als „raumkonstituierendes Dispositiv der Moderne” (Manderscheid 2012) zu verstehen ist und durch materielle und kulturell-symbolische Elemente gut gestützt wird. Dabei ist aber wichtig, dass in Medien und Politik immer häufiger von einem Kulturkampf die Rede ist, in dem grundsätzliche Fragen wie „Wem gehört die Straße?“ und „Wie kann eine lebenswerte Stadt aussehen?“ ausgehandelt werden. Dieser öffentliche Diskurs ist ein deutliches Zeichen dafür, dass sich dem Radverkehr im Spezifischen – aber auch der nachhaltigen Verkehrsentwicklung im Allgemeinen – ein historisches Möglichkeitsfenster im Kampf um kulturpolitische Deutungsmacht geöffnet hat, weshalb eine Forcierung der Verkehrswende hier auf besonders fruchtbaren Boden fällt.
Allerdings müssen diese Visionen nun sowohl der Komplexität des Alltagslebens als auch den divergierenden Zielgruppen, Spielfeldern, Interessen, Bedürfnissen und Zugängen gerecht werden: Die Gleichung ‚weniger Autos + mehr Radverkehr = lebenswerte Stadt‘ wird dieser Komplexität noch nicht gerecht und verschleiert stattdessen die vielfältigen Herausforderungen und Aushandlungsprozesse, die sich auf politischer, sozialer und kultureller Ebene stellen. Denn die Förderung des Radverkehrs spielt nicht allen gleichermaßen in die Karten und wird – ob intendiert oder nicht – z.B. unweigerlich mit städtischen Aufwertungs- und Umverteilungsprozessen einhergehen, seien es öffentlichkeitswirksame Leuchtturmprojekte oder harmlos anmutende Protected Bike Lanes.
Wichtig ist, dass auch jene Personengruppen in Planung, Repräsentationen und Diskurs einbezogen werden, die es wirklich betrifft – also auch die Verlierer*innen der Verkehrswende und diejenigen, die noch nicht mitgenommen wurden und das Fahrrad selbst nicht nutzen möchten oder können. Das heißt aber nicht, dass die autogerechte Stadt allgemein ‚gerechter‘ war – ganz im Gegenteil, es steckt enorm viel demokratisches, egalitäres und kritisches Potenzial in der aktuellen Radverkehrsentwicklung, aber eben auch kapitalistische Verwertungs- und Verteilungslogiken, die maßgeblich auf sozialen Ungleichheiten und Ausschlüssen basieren. Der aktuelle Bedeutungsgewinn des Fahrrads dient zugleich den Protestforderungen sozialer Bewegungen wie auch den Wachstumslogiken des neoliberalen Kapitalismus (vgl. Spinney 2021; Cox & Koglin 2020).
Fakt ist dabei, dass eine Verkehrswende nur mit umfassenden baulichen und nicht-baulichen Maßnahmen sowie durch strukturelle wie mentale Transformations- und Umverteilungsprozesse erreicht werden kann, indem in erster Linie die bestehende Hegemonie des Automobils massiv eingeschränkt wird. Maßnahmen wie der Ausbau der Radverkehrsinfrastruktur, sowie Diskussionen und Umsetzungen autofreier/autoarmer Innenstädte und Kiezblocks führen also auf jeden Fall in die richtige Richtung. Dabei muss aber auch darauf geachtet werden, dass eine autogerechte und sozialräumlich segregierte Stadt nicht einfach nur durch fahrradfreundliche Maßnahmen ausgebessert wird. Als Beispiel sei hier Kopenhagen angebracht, welches als Paradebeispiel einer fahrradfreundlichen und lebenswerten Stadt gilt. Aber auch hier ist die Hegemonie des Autos ungebrochen und eine neoliberale Stadtentwicklung im vollen Gange (vgl. Freudendal-Pedersen 2020; Mayer et al. 2016). Wenn es um Visionen einer fahrradfreundlichen und lebenswerten Stadt geht, dann scheint Kopenhagen also nicht als Ende, sondern gerade mal als Anfang der Fahnenstange, die es konsequent weiter zu erklimmen gilt.
Eine Aufgabe wird es dabei sein, eine gemeinsame Zielorientierung zu erreichen, welche diverse Lebenslagen und Bedürfnisse einschließt. Dabei zeigen sich eben auch im Radverkehrsbereich zahllose blinde Flecken, sei es in der Radverkehrspolitik, Infrastrukturplanung, der Wissenschaft, Fahrradwirtschaft, Medienproduktion und insbesondere auch im Lifestyle- und Radsportbereich. Viele lebensweltliche, politische wie akademische Diskussionen schaffen es noch nicht die Komplexität, Ambivalenz und Vielfältigkeit der einzelnen Phänomene, ihre Wechselwirkungen, Effekte und Gestaltungsaufgaben zu fassen, die mit einer integrierten und möglichst inklusiven Radverkehrsförderung einhergehen müssten.
In diesem Sinne ist es gerade aufgrund der rasanten Entwicklung des Radverkehrs eine ernstzunehmende und umfassende Aufgabe, eine „fahrradfreundliche Stadt für alle“ zu gestalten und eine menschengerechte und lebenswerte Stadt in den eigentlichen Wortsinnen zu befördern, und nicht etwas, das als Selbstläufer eines umfassenden Infrastrukturausbaus einfach so entstünde. Eine tiefgreifende kritische Auseinandersetzung mit dem Thema auf empirischer wie theoretischer Ebene – auch mit Blick auf die raumbezogene Sozialforschung – steht dabei in Deutschland noch weitestgehend aus.
Autoreninfo
Maximilian Hoor ist seit 2016 Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Fachgebiet Integrierte Verkehrsplanung der Technischen Universität Berlin und promoviert zu urbanen Fahrradkulturen im Spannungsfeld zwischen Gesellschaftskritik, sozialer Distinktion und wirtschaftlicher Produktivkraft. In seinem Ansatz verbindet er theoretische und methodische Zugänge aus Cultural Studies, Cycling Studies sowie Mobilitäts- und Verkehrsforschung. Er studierte Geographie an der Universität zu Köln und Humangeographie im Master an der Humboldt-Universität zu Berlin. E-Mail: m.hoor@tu-berlin.de
Literaturverzeichnis
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[1] Siehe Götschi et al. (2016) online unter: https://www.tandfonline.com/doi/full/10.1080/01441647.2015.1057877
[2] Siehe Chapman (2007) online unter: (https://citeseerx.ist.psu.edu/viewdoc/download?doi=10.1.1.469.7623&rep=rep1&type=pdf) und Illich (1974) online unter: http://debate.uvm.edu/asnider/Ivan_Illich/Ivan%20Illich_Energy%20and%20Equity.pdf
[3] Siehe Gössling (2018) online unter: https://www.vivavelo.org/fileadmin/inhalte/user_upload/Goessling_CBA_Auto-Fahrrad_0418.pdf und Meschik (2012) online unter: https://www.sciencedirect.com/science/article/pii/S1877042812027644
[4] Die Critical Mass ist eine seit 1992 weltweit stattfindende monatliche Veranstaltung zur Förderung des Radverkehrs. Unhierarchisch und dezentral organisiert, wird in einer großen Gruppe von Fahrradfahrer*innen durch die Städte gefahren und unter dem Motto „We’re not blocking traffic. We ARE traffic!“ für bessere Radverkehrsbedingungen demonstriert.