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Corona und der öffentliche Raum

17. April 2020
Einsame Person am Viktoria-Luise-Platz, Berlin-Schöneberg. Eigene Aufnahme

Wie konnte sich so rapide eine virologisch-statistische Deutung des öffentlichen Raums bei so vielen Menschen durchsetzen? Was zeigt Corona über die gesellschaftlichen Probleme auf, die sich auch in „normalen“ Zeiten im und am öffentlichen Raum abspielen? Der Beitrag nimmt aktuelle Veränderungen im öffentlichen Raum zum Anlass, um seine Veränderbarkeit zu betonen und auf bestehende Ungleichheiten hinzuweisen, die sich während der Krise verschärfen können. Im Einzelnen geht es um kleine Geschäfte, Bier, politischen Aktivismus, Digitalisierung, Obdachlose und Mobilität.

Die weltweiten Reaktionen auf die Corona-Pandemie haben öffentlichen Räumen neue Ordnungen auferlegt. Sowohl das öffentliche, als auch das private Leben bewegen sich auf dem Minimalniveau von Bewegungs- und Handlungsfreiheit. Niemand kann oder will eine Prognose darüber abgeben, wann die Gesellschaft wieder in den Normalmodus geschäftiger Betriebsamkeit zurückkehren darf, wenn auch zunächst nur schrittweise. Keiner wird bestreiten können, dass die Normalität nach Corona eine andere sein wird als zuvor. Keine Finanzkrise, kein Terroranschlag hatte je so weitreichende räumliche Konsequenzen, die sich in ihrem einschneidenden Charakter global derart ähneln.

Die Krise macht uns alle – je nach Lebenslage und Ressourcenausstattung – zu BeobachterInnen eines Experimentes, dem wir uns nicht entziehen können. Selten war die Konstruktion eines „Wir“ so überzeugend, auchauf globaler Ebene. Zwei Gründe für die Behauptung, dass jetzt eine besonders interessante Zeit für SoziologInnen ist: Die Corona-Krise setzt eine Vielzahl kollektiver wie individueller Routinen außer Kraft. Das zwingt viele dazu, sich an neue Gegebenheiten anpassen,neue Routinen entwickeln zu müssen. Es ist erstaunlich, wie überall auf der Welt Gesellschaften widerstandslos akzeptieren, dass Normalität angesichts der Krise zusammenbricht. Normalität muss jedoch sofort neu geschaffen werden, gerade in Ausnahmesituationen, die die soziale Ordnung bedrohen. Besonders staatliche Institutionen arbeiten an einer Normalisierung der Krise in öffentlichen Diskursen und im öffentlichen Raum. Die Bevölkerung etabliert krisenfeste Alltagsgewohnheiten (etwa das häufige Händewaschen, Physical und Social Distancing, Home Schooling, Homeoffice, der NachbarIn helfen, etc).

Meine recht optimistisch klingende Beschreibung als kollektives Experiment soll nicht darüber hinwegtäuschen, dass jede Organisation, jeder Haushalt, jedes Individuum den erzwungenen Rückzug ins Private mit unterschiedlichen – auch räumlichen[1] – Voraussetzungen bewältigt. Dementsprechend gut oder schlecht, besser oder schlechter geht es vielen gerade. Die gesellschaftlichen Debatten, die nach der Corona-Krise geführt werden, werden zeigen, wer bereit und gewillt ist, aus dem kollektiven Experiment zu lernen und wer nicht. Viele wünschen sich die gewohnte Normalität zurück. Doch die Lernprozesse, die (Welt-)Gesellschaften derzeit durchmachen, lassen eine Rückkehr zu „business as usual“ als Rückschritt erscheinen.

Meine These für diesen Beitrag ist zweistufig und für SoziologInnen wenig überraschend: Der Übergang von vorheriger Normalität in die neue Normalisierung der Krise macht bestehende gesellschaftliche Probleme aus einer anderen Perspektive begreiflich. Viele Probleme, die vor der Corona-Krise wenig oder anders Beachtung fanden, werden nach der (akuten) Krise in einem neuen Licht erscheinen. Das liegt auch daran, so der zweite Teil meiner These, dass die Folgen der Krisenbekämpfung aufzeigen, welche Funktionen öffentliche Räume ansonsten in unserem Alltag erfüllen oder in Zukunft erfüllen könnten. Der schnelle Wandel öffentlicher Räume unter Corona dient mir als Folie, um einen kritischen Blick auf die Selbstverständlichkeit öffentlicher Räume im gesellschaftlichen Normalzustand zu gewinnen.[2]

Die Konsequenzen der Krise verdeutlichen, wie unsere Gesellschaften im Normalmodus mit öffentlichen Räumen haushalten, wozu sie dienen und wozu nicht, welche Machtverhältnisse sie prägen und wie wandelbar unser Verhältnis zur Nutzung und Aufteilung öffentlicher Räume sein kann.

Was alle zu verstehen scheinen: das normale öffentliche Leben hätte zu hohe Folgekosten

Öffentliche Räume sind multifunktionale Räume, die in Deutschland zu einem großen Teil von der Verkehrsinfrastruktur dominiert werden. Sie dienen hier der Waren- und Menschenzirkulation, der Erholung, dem Konsum, der Begegnung, dem Protest und werden von Obdachlosen bewohnt. In mediterranen Ländern spielen sich noch größere Teile des soziales Lebens im öffentlichen Raum ab als es in Deutschland in der Regel der Fall ist. Umso härter trifft die vollständige Ausgangssperre etwa die italienische oder spanische Bevölkerung. Während eine vollständige Ausgangssperre öffentliche Räume eher zu monofunktionalen Räumen der Risikoeindämmung verwandelt, lässt der etwas weniger dramatische Verlauf der Pandemie in Deutschland Regelungen zu, die die Bewegungsfreiheit in öffentlichen Räumen so weit wie möglich aufrecht erhalten.

 Staat, Wirtschaft und Bevölkerung in Deutschland sind jetzt dazu gezwungen, die normalerweise vielseitigen Nutzungsweisen öffentlicher Räume zu beschränken. Die Beschränkungen werden ohne merkliche Gegenwehr befolgt. Dass die kollektive Selbstbeschränkung so widerstandslos verläuft, ist nicht mit deutscher Obrigkeitsgläubigkeit zu erklären, zumal es überall in der Welt kaum Widerstand gegen staatliche Maßnahmen gibt. Sie gelingt, weil die Medien  unaufhörlich Corona-News senden, weil Menschen sich wechselseitig sozial kontrollieren und weil Politik die Kontroversen unter VirologInnen und im Verhältnis zu anderen ExpertInnen bisher nicht in den Vordergrund ihrer Risikokommunikation gegenüber der Bevölkerung gestellt hat. Nur deswegen dienen öffentliche Räume den meisten Menschen nur noch dem Passieren auf Abstand, dem Einkaufen des Notwendigen, der sportlichen Betätigung, dem Spazieren und vielleicht noch der täglichen Vergewisserung, dass die Selbstbeschränkung für alle noch weiter gilt. Die Einschränkungen variieren von Stadt zu Stadt und Bundesland zu Bundesland, je nach dem, wie die Datenlage zum Virus konstruiert und lokal/regional/national und international interpretiert wird. Obligatorische Passagepunkte der Gesellschaft, meist öffentliche oder teilöffentliche Begegnungsräume, werden nicht genutzt und sind zum Teil entweder abgeriegelt, baulich angepasst oder markiert. Das betrifft etwa den Einstiegsbereich im Bus, die Kasse im Supermarkt, die Warteschlange, Spiel- und Sportplätze, Erholungsgebiete und viele öffentliche Gebäude, wie Bibliotheken oder Museen.

Normalerweise lebt jeder in seinem eigenen öffentlichem Raum

Öffentliche Räume gibt es natürlich immer noch, trotz Corona. Schauen Sie doch einfach aus dem Fenster des Raumes, in dem Sie sich gerade befinden. Ist das ein öffentlicher Raum?

Weil öffentliche Begegnungsräume kaum noch so genutzt werden, wie unter normalen Bedingungen, spielt sich dort kein „normales“ öffentliches Leben mehr ab. Das zeigt umso deutlicher auf, dass die institutionalisierte Markierung von Räumen als öffentliche, diese noch nicht zu Räumen des kollektiven wie individuellen öffentlichen Lebens macht. Die eingespielte Dialektik zwischen der institutionalisierten und materiellen Zeichenhaftigkeit öffentlicher Räume und ihrer individuellen Wahrnehmung als solche, ist in neue Bewegung gekommen. Sie wird gerade kollektiv umgelernt. Die materiellen Strukturen öffentlicher Räume (Straßen, Wege, Gleise, Grünflächen, Geschäfte etc.) werden umgenutzt und eingeschränkt, die individuelle Wahrnehmung öffentlicher Räume ist ungewöhnlich intensiv und homogen medial überformt. Weil der öffentliche Raum verstärkt durch ein medial vermitteltes Interpretationsschema als pandemischer Risiko-Raum wahrgenommen wird, wird die leitende Unterscheidung zwischen öffentlichen und privaten Sphären einer anderen Raumteilungslogik untergeordnet. Das ist auch so, weil ansonsten verbreitete Muster medialer Überformung öffentlicher Räume – etwa die der Angst-, Kriminalitäts- oder Gewalträume, der Protest- oder Partyräume – gerade ihre Plausibilität im Alltag verlieren. Die Vielfalt an Deutungsmustern, mit denen Körper sich durch den öffentlichen Raum bewegen, wird einem einzigen untergeordnet. Andererseits steigt das Stressniveau in privaten Räumen, insbesondere bei Familien mit Kindern, in Pflegeheimen und in Kontexten häuslicher Gewalt.[3] Die mediale Umdeutung des privaten Raums zum Rückzugsraum vor der Pandemie bedeutet für manche weder Privatheit noch Rückzug.

Corona verändert unsere Lebensweise, weil der öffentliche Diskurs die Seinsweise öffentlicher Räume radikal umdeutet

Erst die weithin akzeptierte, medial ohne Unterlass verbreitete Interpretation öffentlicher Räume als Risikoräume, legitimiert Teile der materiellen öffentlichen Infrastruktur im Sinne der Pandemiebekämpfung umzubauen und die gewohnte Vielfalt individueller Raumaneignungen auf wenige lebensnotwendige zu beschränken. Die vielfältigen Bedeutungen, die öffentlichen Räumen gegeben werden, werden in dieser Notlage durch virologische, ökonomische und politische Diskurse in einer Weise kollektiv reduziert und uminterpretiert, dass sich ihre Nutzung tatsächlich verändert, nämlich drastisch abnimmt. Das funktioniert in Europa (noch?[4]), ohne dass jeder Einzelne überwacht werden muss, während in Wuhan, China, staatlich bezahlte Blockwarte den Zugang zu Stadtvierteln kontrollierten oder finanzielle Anreize zum Anschwärzen von MitbürgerInnen gesetzt wurden.[5]

Ein Großteil der Bevölkerung sieht die Mischung aus ökonomischer und virologischer Überlegung ein, dass die ansonsten weitgehend kostenfreie Nutzung öffentlicher Räume nun das Risiko birgt, viel höhere gesundheitliche und ethische Kosten[6] zu verursachen. Für das Gesundheitssystem erhöhen sich die Kosten einer Ansteckung exponentiell, wenn keine Gegenmaßnahmen eingeleitet werden. Zum Teil ohne dass Notiz davon genommen wurde, zum Teil mit handfesten, sichtbaren Symptomen, wurde das Virus von mobilen BewohnerInnen des Globalen Nordens durch die Welt getragen und hat damit zu einer globalen Umdeutung der Seinsweisen (Ontologien) öffentlicher Räume geführt.

Die Gegenmaßnahme, der Shutdown öffentlicher Räume, hat ökonomische Kosten, die stetig gegen die gesundheitlichen Folgen einer schrittweisen Lockerung des Shutdowns politisch aufgewogen werden. Um das Gesundheitssystem nicht zu überlasten, werden kurzfristige Folgekosten des Shutdowns in Kauf genommen, etwa auf Arbeitsmärkten, in der Bildung oder im Kultursektor bei Freiberuflern. Politik, Verwaltung und ExpertInnen wägen ab, welche Segmente des öffentlichen Raums wieder zur Nutzung geöffnet werden. Dabei wird auch einzubeziehen sein, welche wirtschaftlichen Tätigkeiten ökonomisch am meisten vom Zugang zum öffentlichen Raum abhängen, welche nicht, welche Lieferketten mitbetroffen sind und welche Menschenansammlungen im öffentlichen Raum bei Öffnung bestimmter Segmente vorerst zu erwarten sind. VetreterInnen von religiösen Einrichtungen stellen bereits die Frage, warum Baumärkte geöffnet sind während religiöse Versammlungen weiterhin untersagt bleiben[7]. Gastronomiebetriebe, die besonders hart getroffen sind, fragen sich, warum sie nicht unter strengen hygienischen Auflagen wieder öffnen dürfen.

Sobald die ersten Menschen und Unternehmen von ersten Lockerungen zu profitieren beginnen, werden sich die beginnenden Diskussionen über die politischen, sozialen und ökonomischen Folgen der Maßnahmen, die zur Eindämmung der Pandemie ergriffen wurden, intensivieren. Es wird sich die Frage stellen, welche Segmente des öffentlichen Raums zu Recht oder zu Unrecht noch länger auf eine Freigabe warten müssen und wie fair dieser bisher recht technokratisch geführte top-down Prozess ist, der zweifelsohne zu kollektiv verbindlichen Entscheidungen geführt hat.

Die Isolation verhilft ihren Gründen zur Akzeptanz

Lange Schlange vor der Post, Berlin-Kreuzberg. Eigene Aufnahme

Die Einschränkung der Nutzungsweisen öffentlicher Räume, das wirksamste Mittel in der Breite, führt zur Bedeutungszunahme virtueller Kommunikation und privater Räume.

Erstaunlicherweise konnte sich in Zeiten von „Fake News“, medialer Blasenbildung, Polarisierung und „post-truth“ in kürzester Zeit erfolgreich eine virologisch-statistische Deutung der Pandemie im medialen Mainstream-Diskurs Deutschlands durchsetzen. Zwar zirkulieren auch in deutschsprachigen Medien Fake-News über die Epidemie, doch haben sie bei Weitem nicht die Verbreitung und Glaubwürdigkeit erreicht, wie etwa in Russland.[8] Andererseits werden coronabedingte Fake-News-Beschuldigungen in einigen autoritären Staaten als Vorwand für Verhaftungen von JournalistInnen genutzt.[9]

Die rasche Akzeptanz der virologisch-statistischen Deutung in vielen Bevölkerungsschichten in Deutschland wird durch die Anpassungen, die das Virus ausnahmslos allen abverlangt, erleichtert. Der Wegfall öffentlicher Räume als Bühnen der Selbstdarstellung und der von allen praktizierte Rückzug in private Räume verstärkt den ohnehin schon verbreiteten digitalen Medienkonsum. Der Konsum von Corona-News, die unaufhörlich die virologisch-statistische Deutung des Virus verbreiten, wird zu einer neuen privaten Hauptbeschäftigung für viele. Das erzeugt Spitzenlasten bei großen Webseiten wie Youtube, Instagram oder Whatsapp, die ihre Dienste drosseln müssen. Kaum auszumalen wäre der Shutdown öffentlicher Räume, wenn digitale Kommunikationsmöglichkeiten auch noch wegfielen und die Herstellung öffentlicher Kommunikation auf bewährte, aber vielen jungen Menschen kaum noch bekannte analoge Medien zurückfiele.

So wie sich international nicht nur die Zählweisen der Infizierten und Toten der nationalen Statistiken massiv unterscheiden,[10] sondern auch die dominanten Interpretationen der Seinsweisen (Ontologie) des Virus, so unterscheiden sich auch die Maßnahmen, die die Einschränkung öffentlicher Räume betreffen. An der Geschwindigkeit der Umdeutung öffentlicher Räume wird sehr schön deutlich, dass die Seinsweisen öffentlicher Räume als Räume in Wechselwirkung mit öffentlichen Diskursen stehen, deren Infrastrukturen selbst verräumlicht sind. Als was öffentliche Räume zu gelten haben, wird mehr denn je in öffentlichen Diskursen geprägt und vice versa. Öffentliche Diskurse als kommunikative Zusammenhänge sind aber nicht autark darin, Verbreitung zu finden.[11] Sie werden durch Infrastrukturen der Zirkulation von Informationen stabilisiert. Wenn der brasilianische Präsident auf einem der populärsten Fernsehsender sagt (Zirkulationsinfrastruktur), dass er keine Angst vor Corona habe, weil sowieso jeder sterben müsse (Öffentlicher Diskurs) und danach Bewohner von Favelas eingeblendet werden, die trotz Corona arbeiten gehen (Öffentlicher Raum), dann ist das nur ein besonders augenfälliges Beispiel für die Plausibilität dieser Unterscheidungen.[12]

Der Privatraum muss für alles herhalten

Bei vielen Menschen übernimmt nun digitale Kommunikation im privaten Raum so weit wie möglich bestimmte Funktionen, die ansonsten durch analoge Kommunikation erfüllt werden. Dazu gehören etwa die Koordination von Arbeitsprozessen, die Beschulung von Kindern und Jugendlichen, der Kneipenbesuch mit Freunden oder der Besuch eines Konzertes oder Theaterstücks. Doch mehr denn je zeigt sich, dass die Mediatisierung unserer Alltagswelt die affektiven, körperlichen und materiellen Elemente von Kommunikationspraktiken nur unzureichend nachbilden kann. Mögen Smartphones und Software noch so effektiv darin sein, virtuelle Räume zur Imitation von Face-to-face-Situationen massenhaft und fast kostenfrei zur Verfügung zu simulieren, so werden sie derzeit fast nur in privaten Räumen genutzt. Die affektiven, körperlichen und materiellen Bestandteile von Praktiken sind immer räumlich verortet, raumkonstitutiv und werden von der Gestalt und Widerständigkeit von Räumen geprägt. Weil jetzt vielen Menschen nur noch ihr (u.U. mit anderen geteilter) Privatraum zur Nutzung digitaler Medien zur Verfügung steht, finden die Kommunikationspraktiken, wie vernetzt und digital sie auch sein mögen, immer in den eigenen vier Wänden statt. Doch private Räume besitzen nur ein begrenztes Potential zur Imitation der affektiven, körperlichen und materiellen Bestandteile von Face-to-Face Kommunikationspraktiken. Dieser Zusammenhang wird klarer, wenn man sich vergegenwärtigt, was der erzwungene Rückzug ins Private für viele Menschen bedeuten kann: enge Wohnverhältnisse, kein Rückzugsraum, womöglich mit Kindern, Stress oder sogar Gewalt in der Familie, verstärkte psychische Probleme oder für einen pflege- und isolationsbedürftigen älteren Menschen Verantwortung zu tragen. Dazu kommt, dass viele Familien gar nicht oder unvollständig mit Laptops und Internetanschlüssen ausgestattet sind.

Ansonsten kostenlos zugängliche öffentliche Räume stehen also nur noch einer sehr beschränkten Palette von Nutzungspraktiken zur Verfügung, um ökonomische, ethische und soziale Folgekosten der Pandemie zu begrenzen. Der Alltag der Gesellschaft, dessen Bühne öffentliche Räume sind, wird zu einer riskanten Praxis; diese kann weitestgehend nur unter Bedingungen bewältigt werden, deren Legitimität ein virologisch-statistischer Populärdiskurs vorgibt: Abstandsregel, Selbstisolation, Mundschutz usw. Der öffentliche Raum wird zum Schauplatz eines zeitlich begrenzten Laborexperimentes, dessen Regeln individuell wie kollektiv gelernt, polizeilich überwacht, doch größtenteils bereitwillig mitgespielt werden, bislang zumindest. Zur hohen Akzeptanz der Maßnahmen in vielen Teilen der Welt trägt sicher auch bei, dass die Mediatisierung der Krise die Krise als Krise der Menschheit erlebbar macht – überall auf der Welt gehen Menschen damit um, in den eigenen vier Wänden eingesperrt zu sein.

Zugang zu Menschenströmen ist Kapital

Die Pandemie ist wirtschaftlich so schädlich für viele KleinunternehmerInnen, weil die räumliche Zugänglichkeit vieler Geschäfte unmöglich wird. Diese Zugänglichkeit ist eine zentrale Bedingung für die Realisierung von Verkäufen bei vorbeiströmenden Menschen. Räumliche Zugänglichkeit bedeutet nicht dasselbe, wie geöffnet zu sein; weil eine Pizzeria räumlich unzugänglich sein kann und trotzdem noch Pizzen ausliefert oder ein Getränkehandel zwar räumlich nicht mehr betretbar aber dennoch digital oder telefonisch erreichbar sein kann. Der Onlinehandel boomt derzeit, Amazon stellt alleine in den USA 100.000 neue MitarbeiterInnen ein. Der ohnehin gebeutelte Einzelhandel in Innenstädten kann die Konkurrenz von Amazon und Co noch weniger stemmen.

Viele der Wege, die im Normalbetrieb in öffentlichen Räumen zurückgelegt werden, sind kleine Erledigungen, die sich bei Wegfall der räumlichen Zugänglichkeit erübrigen und die sicher auch dazu führen können, dass jemand en passant in Geschäfte geht, in die er anfangs nicht zu gehen beabsichtigte. Zum Friseur, zum Schneider und auf dem Rückweg beim Bäcker vorbeizugehen, ist jetzt aber unmöglich. Viele Geschäftsmodelle beruhen trotz Digitalisierung immer noch darauf, dass sie räumlich erlebt werden können, dass es einen freien Zugang zu ihren Räumlichkeiten über den öffentlichen Raum gibt. Mieten und laufende Kosten dieser Geschäfte sind nur tragbar, wenn durch ihre Türen Tag für Tag Menschen strömen können, die vielleicht etwas kaufen. Einen Zugangspunkt zu ganz spezifischen Menschenströmen (PendlerInnen, BahnfahrerInnen, Spazierende, TouristInnen, etc) zu haben, ist eine zentrale räumliche Kapitalressource vieler Geschäfte im öffentlichen Raum. Wäre dieser Zugangspunkt für die Realisierung von Werten nicht notwendig, so ließe sich das Geschäft auch online betreiben, in einem Hinterhof oder einem Keller. Das ist jedoch nur bedingt möglich, wenn räumliche Zugänglichkeit auch mit persönlicher Beratung durch VerkäuferInnen einhergeht. Der Blumenhandel etwa, ein hauptsächlich offline florierendes Geschäft, hat derzeit Umsatzeinbußen von 70 Prozent zu verzeichnen, weil die Geschäfte keinen Zugangspunkt im öffentlichen Raum haben. In den Niederlanden, das 85 Prozent seiner Blumen in alle Welt exportiert, werden massenhaft Waren vernichtet.[13] 150.000 Arbeitsplätze stehen dort auf dem Spiel, auf dem afrikanischem Kontinent sind es eine Million Menschen, die vom Handel mit Schnittblumen leben.

Die zu erwartende Insolvenzwelle kleiner Geschäfte und von Start-Ups nach Corona wird innerstädtische Gewerberäume freisetzen, die Chancen für neue Geschäftsmodelle aber auch Risiken verstärkter Gentrifizierung und dauerhaften Leerstandes mit sich bringen. Zwar hat die Bundesregierung die Pflicht zur Insolvenzmeldung für einige Monate ausgesetzt, doch kann man davon nur Gebrauch machen, wenn die zukünftige Sanierung des Unternehmens wahrscheinlich ist.[14] Unternehmen, die bereits vor Corona schwächelten oder gerade erst gegründet wurden, werden wohl aufgeben müssen. Es liegt an städtischer Politik und wachsamen BürgerInnen, die durch neue höherpreisige Geschäfte drohenden Aufwertungen von Nachbarschaften zum Politikum zu machen – und das so schnell wie möglich.

Ohne Bier kein Pfand

Nicht nur in Berlin kennt man das Phänomen des Pfandsammelns im öffentlichen Raum. Wer im öffentlichen Raum Bier etc. trinkt, stellt seine Flaschen häufig dort ab, wo sie jemand, der auf der Suche ist, einsammeln kann. Das kann man gut oder schlecht finden, jedenfalls ist es gängige Praxis, gerade in den Räumen der Stadt, in denen viel getrunken und gefeiert wird. FlaschensammlerInnen sind neben Obdachlosen oft auch (ältere) Menschen mit sehr geringem Einkommen, Abhängige, teilweise sogar Kinder aus Familien mit geringen Einkommen. Das Zubrot, das sich Einige dadurch erwerben und die Möglichkeit, den eigenen Tag zu strukturieren, sollten nicht unterschätzt werden.[15] Mit Corona fällt das zu einem großen Teil weg. Kreative Umnutzungen öffentlicher Zäune zu „Gabenzäunen“ können dem Wegfall der für viele essentiellen Pfandökonomie zumindest ein wenig entgegenwirken.[16]

Politischer Aktivismus ohne öffentlichen Raum ist ein zahnloser Tiger

Kinderwunsch, Berlin-Kreuzberg. Eigene Aufnahme

Politischer Aktivismus, sei es die MieterInnenbewegung, Fridays for Future oder Pegida, ist ohne Zugang zum öffentlichen Raum recht wirkungslos. Abgesehen davon, dass viele Menschen jetzt andere Sorgen haben, als das Klima oder das Abendland zu retten oder sich dafür zu interessieren, fällt auf, dass AktivistInnen auch in digitaler Kommunikation kaum mit ihrer Botschaft durchdringen. Alles, was derzeit nicht irgendwie mit Corona in Verbindung gebracht werden kann, scheint zweitrangig zu sein. Das unterstreicht, wie sehr Versammlungsrechte und das Recht auf freie Meinungsäußerung von den Räumen abhängen, in denen sie stattfinden (dürfen) und diese natürlich auch mitprägen. Der öffentliche Raum, in dem politisierte Körper kollektiv erscheinen, Raum aneignen und neue Interpretationen des politischen Lebens inszenieren, kann nicht digital dupliziert werden, weil digitalen Räumen andere Machtstrukturen zugrunde liegen als öffentlichen [17]. Plakatierungen, Demonstrationen, Mahnwachen, Unterschriftensammlungen, Blockaden, Besetzungen, Pressekonferenzen sind nicht mehr möglich. Das nimmt Politik im Ausnahmezustand den Druck, der von „der Straße“ auf sie ausgehen kann und verhindert ein legitimes demokratisches Korrektiv.

Weniger Autos bedeutet mehr Raum, aber für wen?

Verkehrslärm, Abgasbelastungen und Unfallzahlen haben stark abgenommen, die Lebensqualität ist gestiegen. Das gilt ausnahmslos für alle, ohne Rücksicht auf die privaten Verhältnisse. Der PKW-Individualverkehr in Deutschland ist für 12 Prozent aller CO2-Emmissionen und 60 % der Emissionen im Verkehr verantwortlich.[18] Öffentliche Räume, zu denen auch das Gemeingut der Luft gehört, die wir dort atmen, verzeichnen weitaus geringere Verschmutzungswerte durch Feinstaub und andere Schadstoffe. Weil weniger Menschen ihre Mobilitätsbedürfnisse voll ausleben, Reisen, Ausflüge und Freizeitbeschäftigungen kaum noch möglich sind, reduziert sich die Verkehrsleistung des raumintensivsten Verkehrsmittels, des privaten PKW. Während die Deutsche Bahn die durch den Produktionsstopp in der Autoindustrie frei gewordenen Kapazitäten für Lebensmittelgütertransporte nutzt, beginnen Großstädte weltweit Fahrspuren für den Radverkehr freizugeben. Allein in Bogotá, Kolumbien, wurden Hunderte Kilometer Autostraßen umgewidmet. Der ADFC schätzt, dass bis zu ein Drittel der Menschen, die während der Corona-Krise notgedrungen auf das Rad umsteigen, auch danach dem Rad treu bleiben könnten.[19] Viele steigen um, weil die Innenräume des öffentlichen Nahverkehrs als Risiko-Räume wahrgenommen werden; aber auch, weil Fahrräder noch besser vor direktem Kontakt zu anderen Menschen schützen als das reine Gehen. Auf Seiten der Autoindustrie werden die uns allen etwa von der Abwrackprämie bekannten Geschütze des Lobbyismus aufgefahren. Gefordert werden Subventionen für Autokäufe, die Herabsetzung von Umwelt- und Sozialstandards und eine neue Abwrackprämie.

Es ist traurig aber wenig überraschend, dass eine der Schlüsselindustrien der deutschen Wirtschaft nicht in der Lage ist, aus der gesellschaftlichen Bereitschaft, mit neuen Mobilitätsformen zu experimentieren, Kapital zu schlagen und sich mit den AkteurInnen der Verkehrswende an einen Tisch zu setzen, um zu eruieren, wozu ihre Produktion im Sinne einer sozialen und ökologischen Mobilitätswende beitragen könnte. Tatsächlich ist der Absatz in allen großen Märkten bereits seit 2017 rückläufig – das hat mit fehlender (kaufkräftiger) Nachfrage und extremer Exportabhängigkeit der deutschen Industrie zu tun. Die Produktion von Autos in Deutschland sank 2018 um fast zehnProzent von 5,6 auf 5,1 Millionen, im Jahr 2019 um sechs Prozent von 5,1 auf 4,7 Millionen Fahrzeuge. Damit waren die kumulierten Rückgänge in 2018/2019 bereits größer als in den Krisenjahren 1993 und 2009. Während die großen Autokonzerne wie VW, Daimler oder BMW mit ihren hohen Rückstellungen (wie auch der deutsche Staat im internationalen Vergleich) vergleichsweise gut durch die Krise kommen werden, werden viele kleine Zulieferer schließen müssen und KurzarbeiterInnen entlassen werden. „Wir brauchen Stimulation und Anreize für die Leute, damit sie nach der Isolation wieder in die Autohäuser gehen und Autos kaufen“, schlägt Stefan Wolf vor, Mitglied im Vorstand des Vereins der Deutschen Automobilindustrie. Dass es bei vielen Menschen keine Gewohnheit mehr ist, regelmäßig ins Autohaus zu gehen und nach Corona angesichts massenhafter Erwerbslosigkeit noch weniger, ist für Herrn Wolf offenbar kein Ausgangspunkt, um über die Konversion seiner Industrie nachzudenken.

Eine Gruppe von MobilitätsforscherInnen vom IASS Potsdam hat einen Offenen Brief formuliert, in dem an EntscheidungsträgerInnen appelliert wird, vorübergehende Anpassungen der Verkehrsinfrastruktur im Sinne der Pandemiebekämpfung und Förderung körperlicher Aktivität vorzunehmen, „z.B. indem temporäre Radwege angelegt, Modalfilter für motorisierte Fahrzeuge geschaffen und an engen bzw. überfüllten Gehwegstellen zusätzliche Straßenbereiche für Fußgänger:innen  (Shared Space) geöffnet werden. Geschwindigkeitsbegrenzungen sollten durchgesetzt und wenn möglich verschärft werden, um das Risiko von Verkehrsunfällen zu verringern.“[20]

Die genannten Anpassungen an die Konsequenzen der Pandemie für den öffentlichen Raum legen offen, wie schnell sich die Mobilitätsgewohnheiten vieler Menschen schlagartig mit anderen Verkehrsmitteln befriedigen lassen und wie schnell Planungsprozesse für alternative Verkehrsmittel zum Auto umgesetzt werden könnten. Das ist aber nicht der Punkt, der hier gemacht werden soll. In Krisenzeiten, in denen die Rhetorik des Zusammenstehens zentral wird, lassen sich ungewöhnliche Maßnahmen sicher einfacher durchsetzen, auch auf dem Rücken der AutofahrerInnen, zumal die Anpassungen überall nur temporären Charakter besitzen. Die entscheidende Frage ist, inwiefern sie als Blaupause für eine mutigere und nachhaltigere Aufteilung des öffentlichen Raums und eine ebenso gerechte wie ökologisch sinnvolle Umgestaltung der Automobilindustrie dienen kann. 


[1] Blokand, T. et al (2020) über den Zusammenhang von Kinderarmut und Wohnungsgröße in Berlin während Corona;  https://www.berliner-zeitung.de/mensch-metropole/corona-berlin-grosssiedlungen-hier-treffen-ausgangsbeschraenkungen-die-berliner-besonders-hart-li.80734

[2] Harold Garfinkel: A Conception of and Experiments with ‘Trust’ as a Condition of Stable Concerted Actions. In: O. Harvey (Hrsg.): Motivation and Social Interaction. Ronald Press, New York 1963, S. 187–238 (englisch).

[3] https://www.t-online.de/nachrichten/deutschland/id_87677944/fdp-chef-christian-lindner-kritisiert-angela-merkel-das-halte-ich-fuer-falsch-.html

[4] Überwachung kann natürlich auch freiwillige Selbstüberwachung bedeuten:

https://www.n-tv.de/panorama/Corona-App-kommt-bei-Bevoelkerung-gut-an-article21705839.html

[5] “In the northern province of Hebei, one county offered bounties of 1,000 yuan, or about $140, for each Wuhan person reported by residents. Images online showed towns digging up roads or deputizing men to block outsiders. Some apartment-building residents barricaded the doors of their towers with China’s ubiquitous ride-share bikes.” https://www.nytimes.com/2020/02/03/business/china-coronavirus-wuhan-surveillance.html

[6] https://www.ifo.de/publikationen/2020/aufsatz-zeitschrift/die-volkswirtschaftlichen-kosten-des-corona-shutdown

[7] Laut Deutschlandfunk Nachrichten um 12 Uhr, 17.04.2020

[8] https://www.dw.com/en/is-russia-running-a-coronavirus-disinformation-campaign/a-52864106

[9] https://foreignpolicy.com/2020/04/01/coronavirus-censorship-pandemic-disinformation-fake-news-speech-freedom/

[10] FAZ Printversion vom 04.04.2020, Politikteil

 [11] Warner, Michael (2010): Publics and counterpublics 1. paperback ed., 3. print, 4. print., New York, NY: Zone Books.

[12] https://www.euronews.com/2020/04/06/a-little-flu-brazil-s-bolsonaro-playing-down-coronavirus-crisis

[13] https://www.tagesschau.de/ausland/niederlande-blumen-corona-101.html

[14] https://www.haufe.de/recht/weitere-rechtsgebiete/wirtschaftsrecht/gesetz-zu-coronabedingter-aussetzung-der-insolvenzantragspflicht_210_512336.html

[15]https://www.tagesspiegel.de/berlin/pfandsammeln-in-berlin-von-dieser-person-haette-ich-das-nicht-gedacht/9808026.html

[16] https://gabenzaun.de/

[17] https://transversal.at/transversal/1011/butler/en

[18]https://www.dw.com/de/corona-krise-deutschland-schafft-klimaziel-f%C3%BCr-2020-pandemie-merkel-deutschland-co2-covid-19/a-52862238

[19] https://www.adfc.de/pressemitteilung/corona-adfc-fahrrad-als-rueckgrat-des-resilienten-verkehrssystems-ernst-nehmen/

[20] https://www.iass-potsdam.de/de/blog/2020/04/covid-19-pandemie-sicheren-fussverkehr-und-radfahren-ermoeglichen